Mythos

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Ein Mythos ist in seiner ursprünglichen Bedeutung eine Erzählung. Im religiösen Mythos wird das Dasein der Menschen mit der Welt der Götter oder Geister verknüpft.

Mythen erheben einen Anspruch auf Geltung für die von ihnen behauptete Wahrheit. Kritik an diesem Wahrheitsanspruch gibt es seit der griechischen Aufklärung bei den Vorsokratikern (z. B. Xenophanes, um 500 v. Chr.). Für die Sophisten steht der Mythos im Gegensatz zum Logos, welcher durch verstandesgemäße Beweise versucht, die Wahrheit seiner Behauptungen zu begründen.

In einem weiteren Sinn bezeichnet Mythos auch Personen, Dinge oder Ereignisse von hoher symbolischer Bedeutung oder auch einfach nur eine falsche Vorstellung oder Lüge. So wird etwa das Adjektiv „mythisch“ in der Umgangssprache häufig als Synonymbegriff für „märchenhaft-vage, fabulös oder legendär“ verwendet.

Eine bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gebräuchliche, heute seltene Verdeutschung ist „die Mythe“ als Singular.

Das Ensemble aller Mythen eines Volkes, einer Kultur, einer Religion wird als Mythologie bezeichnet. So spricht man z. B. von der Mythologie der Griechen, der Römer, der Germanen.

Begriffliche Abgrenzung und Merkmale[Bearbeiten]

Im 19. und 20. Jahrhundert finden sich stark voneinander abweichende Definitionen. Die Ansicht, dass es „den“ Mythos als kulturübergreifende sinnstiftende Erzählweise gebe, hatte in der Zeit des Neuhumanismus zahlreiche Anhänger. Die Psychoanalyse oder die anthropologische Schule von Claude Lévi-Strauss führten diese Auffassung ins 20. Jahrhundert fort. Hans Ulrich Gumbrecht hat vor einigen Jahren versucht, das anscheinend Gemeinsame der Mythen auf eine moderne Art der Beobachtung zurückzuführen, die Bedeutung wahrnehmen will und eine auf Präsenz gerichtete Wahrnehmung im Unterschied dazu für mythisch hält.

Anders als verwandte Erzählformen wie Sage, Legende, Fabel oder Märchen gilt ein Mythos (sofern dieser Begriff nicht in seiner umgekehrten Bedeutung als ideologische Falle oder Lügengeschichte verwendet wird) als eine Erzählung, die Identität, übergreifende Erklärungen, Lebenssinn und religiöse Orientierung als eine weitgehend kohärente Art der Welterfahrung vermittelt.

In manchen Mythen deuten die Menschen sich selbst, ihre Gemeinschaft oder das Weltgeschehen in Analogie zu Natur oder kosmischen Kräften. Regelmäßige Abläufe in der Natur und der sozialen Umgebung werden auf göttliche Ursprungsgeschichten zurückgeführt. So merkt André Jolles an, dass alles, was Bestand hat oder haben soll, in seinem Ursprung heiliggesprochen werden muss. Das Zeitverständnis des Mythos ist nicht auf Differenz und Entwicklung, sondern auf Einheit und zyklische Wiederholung ausgerichtet. Jenseits der geschichtlichen Zeit sind Mythen in einem von numinosen Kräften oder Personifikationen beherrschten Raum angesiedelt.

In inhaltlicher Hinsicht werden Mythen manchmal eingeteilt in kosmogonische oder kosmologische Mythen, die die Entstehung und Gestalt der Welt thematisieren, und anthropogene Mythen über die Erschaffung oder Entstehung des Menschen. Ebenso wird oft versucht, eine Unterscheidung zwischen einerseits Ursprungs- und Begründungsmythen zur Erklärung bestimmter Riten, Gebräuche oder Institutionen und andererseits Gründungsmythen über den Ursprung bestimmter Orte oder Städte, historischen Mythen über die Frühzeit eines Stammes oder Volkes sowie eschatologischen Mythen, die sich auf das Ende der Welt beziehen, zu treffen. Solche Abgrenzungen sind bei komplexen Mythensystemen nur schwer möglich. Zu vielen Mythen gibt es Gegenmythen, die den Untergang des Bestehenden oder den Kampf antagonistischer Kräfte versinnbildlichen. Doch denkt der Mythos oft auch Gegensätze als Einheit.

Die stoffwissenschaftliche Mythosforschung versteht den (antiken) Mythos als einen „insgesamt polymorphe[n] und je nach Variante polystrate[n] Erzählstoff mit implizitem Anspruch auf Relevanz für die Deutung und Bewältigung menschlicher Existenz, in dem sich transzendierende Auseinandersetzungen mit Erfahrungsgegenständen solchermaßen verdichten, daß aktive Eingriffe numinoser Mächte eine für die Gesamthandlung wesentliche Rolle spielen.“

Nach einer häufig vorgebrachten Idealvorstellung entstanden „ursprüngliche Mythen“ in schriftlosen Kulturen und wurden durch einen ausgewählten Personenkreis wie Priester, Sänger oder Älteste mündlich weitergegeben. Die Verschriftlichung und anschließende Sammlung und Ordnung in Genealogien oder kanonischen Handbüchern wird verschiedentlich als Anzeichen für ein Nachlassen der traditionellen Wirkungsmacht der Mythen gesehen.

In schriftlosen Religionen spielten mündlich überlieferte Erzählungen eine vergleichbar wichtige Rolle wie die Heiligen Schriften in den Weltreligionen. Sie dienen zum Teil heute noch der Weitergabe und Erhaltung des Glaubens und der damit verbundenen Wertvorstellungen. Ob sich solche Erzählungen mit dem europäischen Begriff Mythos in Übereinstimmung bringen lassen, ist umstritten. Der Ethnologe und Erforscher der Mythen der nord- und südamerikanischen indigenen Völker Franz Boas plädierte bereits 1914 dafür, neben dem Begriff des Mythos die Gattungsbegriffe der Erzähler zu verwenden. Er sah in den Mythen einerseits einen Kulturspiegel der materiellen und geistigen Kultur der von ihm erforschten Völker, andererseits Geschichten (folk tales), die sich über weite Kulturräume hinweg in oft vereinfachter Form verbreiten. Unabhängig von den Abgrenzungsversuchen der Begriffe Mythos und Erzählung mischen sich nach Boas die Elemente beider in kaum trennbarer Weise: Der Mythos betone das ethnisch-partikulare Element, insofern sei er eine ethnographische Autobiographie; die Geschichte könne aber auch wandern. Diese Position vertritt auch Elke Mader, die sowohl alte indianische als auch moderne Mythen untersucht. Hartmut Zinser sieht hingegen zwischen den ethnologischen „Theorien des Mythos“ kaum Gemeinsamkeiten. Heute ist es in der wissenschaftlichen Literatur üblich, eine Definition des Gemeinten voranzustellen, wenn das Wort Mythos verwendet wird.