Ethnologie

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Die Ethnologie ist eine empirische und vergleichende Sozial- und Kulturanthropologie, die die Vielfalt menschlicher Lebensweisen aus einer sowohl gegenwartsbezogenen als auch historisch verankerten Perspektive erforscht.

Ursprünglich hat sich das Fach stark auf das Zusammenleben der heute weltweit rund 1.300 ethnischen Gruppen und indigenen Völker fokussiert. Heute stehen die kulturellen Praktiken und Ideen unterschiedlichster sozialer Gruppen und Entitäten im Mittelpunkt ihrer Forschungen, die zugleich stets im Zusammenhang mit politischen bzw. ökonomischen Strukturen untersucht werden. Die zeitgenössische Ethnologie erforscht damit z.B. auch Institutionen und Organisationen ebenso wie Lebenszusammenhänge in modernen Industriegesellschaften, in städtischen Räumen, oder den Zusammenhang mit Migration.

Durch das enge Eintauchen in die Lebens- und Handlungswelten der von ihr untersuchten Gruppen und Menschen mittels der Methode der Feldforschung zielt die Ethnologie darauf ab, deren spezifische Weltverständnisse zu entschlüsseln und, oft im Vergleich zu anderen kulturellen Zusammenhängen und sozialen Kollektiven, zu erklären. Die Ethnologie ist dabei in der Regel weniger auf die Überprüfung von Theorien und Konzepten, sondern vor allem auf die Generierung von Theorien und die damit verbundene Erklärung von Bedeutungszusammenhängen ausgerichtet. Feldforschung findet heute auch in Zusammenhang mit transnationalen Online-Gemeinschaften (Netnographien) statt.

Die Ethnologie entstand zunächst an den ethnologischen Museen und wird seit Ende des 19. Jahrhunderts als eigenständiges Fach an den Universitäten gelehrt, in Deutschland zunächst als Völkerkunde, in Großbritannien als social anthropology und in den USA als cultural anthropology. Im angelsächsischen Raum gilt die Ethnologie als Teilgebiet der Anthropologie (Wissenschaft vom Menschen) welche im kontinentalen Europa wiederum eher als Naturwissenschaft (physische Anthropologie) und als – heute nicht mehr gebräuchlicher – Teilbereich ethnologischer Feldforschung verstanden wird. Als Kulturanthropologie wird in Europa des Weiteren die Volkskunde verstanden, die auch als Europäische Ethnologie bezeichnet wird. Die Fachgesellschaft der Ethnologinnen und Ethnologen in Deutschland ist die Deutsche Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie.

Fachwissenschaft und Selbstverständnis[Bearbeiten]

Was ist Ethnologie?[Bearbeiten]

Definitionen von Ethnologie überschneiden sich häufig mit Anthropologie:

  • Thomas Hylland Eriksen: „Anthropologie ist das vergleichende Studium des kulturellen und sozialen Lebens. Ihre wichtigste Methode ist die teilnehmende Beobachtung, welche aus lange andauernder Feldforschung in einem besonderen sozialen Umfeld besteht.“
  • Claude Lévi-Strauss: „Die Anthropologie hat die Menschheit zum Subjekt ihrer Forschung, aber anders als andere Wissenschaften vom Menschen, versucht sie ihr Objekt mittels unterschiedlichster Manifestationen zu erfassen.“
  • Clifford Geertz: „Wenn wir entdecken wollen, was den Menschen ausmacht, können wir das nur finden in dem, was die Menschen sind: Und was die Menschen sind, ist höchst unterschiedlich. Indem wir die Verschiedenheiten verstehen – ihr Ausmaß, ihre Natur, ihre Basis und ihre Implikationen – können wir ein Konzept der menschlichen Natur erstellen, mehr ein statistischer Schatten als ein primitivistischer Traum, das beides beinhaltet: Substanz und Wahrheit.“
  • Panoff und Perrin: Die Ethnologie im engeren Sinne bemüht sich um „synthetische Studien und theoretische Schlußfolgerungen“.

Perspektiven[Bearbeiten]

Das Fach pflegt bestimmte Perspektiven, mit denen es sich von anderen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen unterscheidet und gleichzeitig fundamentale Impulse für diese gesetzt hat.

Klassischerweise spielte vor allem der Blickwinkel von innen (auch emische Perspektive) eine wichtige Rolle, d. h. der Versuch, die innere Wirklichkeit eines kulturellen Zusammenhangs und seiner Mitglieder nachzuvollziehen und zu erklären.

Lange Zeit richtet die Ethnologie ihren Fokus zudem auf vorwiegend machtlose und unterprivilegierte Gruppen (etwa von Minderheitengruppen, Kolonisierten oder Marginalisierten). Heute werden dagegen zunehmend auch sozial besser gestellte Gruppen (z. B. gesellschaftliche Eliten) untersucht.

Drittens wurde klassischerweise v.a. das Fremde untersucht, während das Eigene erst langsam ins Blickfeld der Ethnologie rückt. Dabei wurde häufig angenommen, dass das Fremde wie das Eigene und die Grenze dazwischen als gegeben und als selbstverständlich vorliegen. Heute wird, in Anlehnung an Fredrik Barths Ethnizitätstheorie, zunehmend auch auf den Grenzziehungsprozess zwischen der Wahrnehmung des kulturell Eigenen und der des kulturell Fremden hingewiesen (z.B. im Kontext von ethnisch-kulturellen oder nationalen Identitätspolitiken). Des Weiteren wird gezeigt, dass solche Grenzziehungen im Kontext von Globalisierung und Migration oft fließend und zudem untrennbar mit anderen Differenzkategorien (wie sozialer Status oder Geschlecht) verwoben sind.

Zentral ist für das Fach schließlich sein selbstreflexiver Blick, der sowohl die eigenen methodischen Verfahren als auch die Positionalität der Forschenden in Bezug auf die ethnologische Wissensproduktion konsequent überprüft.

Wissenschaftsgeschichte[Bearbeiten]

Im 19. Jahrhundert entwickelte sich Ethnologie als ein Nischenfach. Sie hatte vor allem jene Völker und Kulturen zum Gegenstand, die von bereits länger etablierten Wissenschaften (Geschichte, Philologie, Indologie usw.) nicht erforscht wurden, mit denen aber vor allem europäische Kolonisatoren, Missionare und Reisende sehr oft zu tun hatten.

Seitdem das Fach gegen Ende des 19. Jahrhunderts Einzug in die Universitäten hielt, erwies sich die Definition seines Gegenstandes als schwierig. Sie geschah meist defensiv in Abgrenzung zu anderen Wissenschaften. Die erforschten Gesellschaften wurden oft nur durch das bestimmt, was ihnen im Gegensatz zu staatlich verfassten fehlte. Deshalb wurden vor allem folgende Negativ- bzw. Mangeldefinitionen des Gegenstandes gewählt:

  • nichtentwickelte (= primitive) Kulturen,
  • schriftlose Kulturen
  • nichtindustrielle Kulturen
  • nichtstaatliche Kulturen
  • „savages“, „sauvages“, „Wilde“, also nach europäischen Maßstäben nicht zivilisierte, im „Naturzustand“ befindliche Kulturen
  • geschichtslose und damit der Tradition verhaftete unmoderne Kulturen
  • nichtentfremdete oder von der eigenen westlichen Zivilisation unberührte Kulturen
  • nichteuropäische Kulturen

Oft wurden besonders auch diejenigen Gesellschaften untersucht, bei denen man davon ausging, dass sie vom Aussterben bedroht seien. Zusammenfassend und positiv gewendet lässt sich sagen, dass sich mit der Ethnologie eine Wissenschaft herausbildete, die zum allergrößten Teil stabile, überschaubare Kleingruppen im Zentrum hat, die sich durch hohe Kommunikationsdichte aller abhängigen Gesellschaftsmitglieder auszeichnen (Face-to-Face-Beziehungen) und sehr oft verwandtschaftlich oder quasi-verwandtschaftlich organisiert sind. Auch wenn sich Kleingruppen innerhalb von größeren gesellschaftlichen Verbänden organisieren, sind sie öfter ein Gegenstand ethnologischer Erforschung (Urbanethnologie, Unternehmensethnologie).

Vor allem in Kleingruppen kann man mit der Methode der teilnehmende Beobachtung zu sinnvollen und modellhaften Aussagen gelangen, ohne dabei statistische und quantitative Verfahren anwenden zu müssen. Durch die weitgehende und oft lange währende Unabhängigkeit der untersuchten Gruppen wurde einerseits eine holistische Perspektive möglich, in der ähnlich der Soziologie das Ganze einer Gesellschaft in den Blick genommen werden kann, während sie andererseits breiteste Vergleichsmöglichkeiten bieten, da in den Ethnographien ein riesiger Erfahrungsschatz unterschiedlichster menschlicher Lebensformen ausführlich verschriftlicht wurde. Die Ethnologie eignet sich damit besonders gut für den Test von Generalisierungen.