Flügel (Insekt)

Aus Twilight-Line Medien

Die Beschäftigung mit dem Insektenflügel gehört zu den zentralen Themen der Entomologie, der Lehre von den Insekten. Das Verständnis seiner Entstehung und seiner Formenvielfalt stellt eine große Herausforderung für viele biologische Teildisziplinen dar.

Für die Benennung der Adern, Zellen und Felder des Flügels existieren verschiedene Systeme. Die Evolution der Flügel ist weitgehend ungeklärt und auch bezüglich der Entwicklung während der Ontogenese (Individualentwicklung) sind noch viele Fragen unbeantwortet.

Bereits im frühen Oberkarbon und damit mehr als 100 Millionen Jahre vor den Flugsauriern, den ersten flugfähigen Landwirbeltieren, die mit zu Flügeln umgebildeten Gliedmaßen zu fliegen vermochten, entwickelten die Insekten Flügel aus Ausstülpungen der Haut. Die Entwicklung der Flugfähigkeit ermöglichte die Eroberung neuer Lebensräume und die Besetzung von zahlreichen neuen ökologischen Nischen. Infolgedessen kam es zu einer umfangreichen adaptiven Radiation, wodurch die Fluginsekten heute die artenreichste Tiergruppe überhaupt sind. Der Erfolg der Insekten ist auf die Entwicklung der Flügel zurückzuführen.

Evolution[Bearbeiten]

Theorien zur Entstehung[Bearbeiten]

Aus dem Karbon (vor 320 Millionen Jahren) sind bereits Insekten aus mehr als 10 verschiedenen Gattungen mit voll funktionsfähigen Flügeln bekannt. Die ersten unzweideutigen Fossilien flügelloser Insekten sind deutlich jünger. Die Entstehung der Insektenflügel ist daher nach Fossilfunden nicht direkt belegbar.

So sind die Annahmen über den Verlauf der Evolution der Flügel weitgehend hypothetisch. Die Theorien, aus welchem Teil der Segmente der Brust sich die Flügel entwickelt haben, lassen sich in drei Gruppen gliedern

  1. Herkunft aus seitlichen Auswüchsen des Insekts,
  2. Ableitung aus Auswüchsen am Rücken des Insekts, und
  3. Entwicklung aus Anhängen der Beine des Insekts (Exiten- und Enditentheorien).

Heute werden hauptsächlich zwei Theorien diskutiert.

  • Nach der Epicoxal-Theorie (auch Exit-Theorie) (Kukalová-Peck) sind die Flügel aus beweglichen seitlichen Anhängen an der Basis der Beine entstanden. Die Vorfahren der Insekten hatten demnach gegliederte Beine mit äußeren und inneren Anhängen. Aus diesen Beinen entwickelten sich einerseits die Spaltbeine der Krebse, andererseits aus dem beweglichen äußeren Anhang (Exit genannt) des obersten Beingliedes, der Epicoxa, die Flügel der Insekten. Die Epicoxal-Theorie stützt sich dabei hauptsächlich auf die Tatsache, dass bei allen Insekten die Flügel durch eine Abzweigung der Beintrachee mit Sauerstoff versorgt werden, und auf paläontologische Hinweise.
  • Nach der Paranotaltheorie (erstmals Fritz Müller, 1873) haben sich die Flügel aus starren Auswüchsen der Rückenplatten (Notum) der Brust gebildet. Dafür spricht, dass während der Ontogenese von Insekten mit hemimetaboler Entwicklung die Flügelanlagen bis zur letzten Häutung starr mit diesem Körperteil verbunden sind.

Unabhängig davon, ob die Flügel aus Anhängen der Beine oder Ausstülpungen der Brust entstanden sind, bleibt die Frage ungeklärt, weshalb sich diese Flügelvorläufer zum funktionsfähigen Flügel weiterentwickelt haben. Es müssen Gründe angegeben werden, weshalb es einen Selektionsvorteil bedeutete, dass anfängliche Flügelstummel sich so vergrößerten, dass der Funktionswechsel vom flugunfähigen Fortsatz zum flugfähigen Organ möglich war. Hierfür existieren mehrere plausible Hypothesen, die hier zusammenfassend aufgeführt werden.

  1. Die Körperauswüchse wurden zur Werbung eingesetzt. Größere Flügel könnten zu einer höheren Fortpflanzungswahrscheinlichkeit führen.
  2. Die Vorläufer der Flügel hatten direkt Kiemenfunktion oder sorgten über eine Ventilation des Wassers indirekt zu einer besseren Sauerstoffversorgung. Ihre ursprüngliche Beweglichkeit führte über Ruderfunktion und flugähnliches Rudern auf der Wasseroberfläche (surface-skimming) zur Flügelvergrößerung, gekoppelt mit der Entwicklung von Muskulatur und Gelenkigkeit.
  3. Die Vorformen der Flügel hatten eine Schutzfunktion für die Kiemen. Ihre Größe verbesserte den Schutz der Kiemen und wurde deswegen positiv selektioniert.
  4. Die Körperauswüchse boten aerodynamische Vorteile. Sie ermöglichten etwa beim Jagen der Beute oder bei der Flucht ein höheres oder weiteres Springen oder brachten eine kleinere Verletzungsgefahr beim Fallen aus großer Höhe mit sich. Schon eine höhere Wahrscheinlichkeit, beim Fallen gleich auf den Beinen zu landen, würde einen Selektionsvorteil bedeuten. So konnte über das Gleiten das Fliegen entwickelt werden.
  5. Die Vorformen der Flügel dienten der Wärmeregulation. Insekten als wechselwarme Tiere sind bei kühler Umgebung lethargisch. Es ist für sie von Vorteil, wenn sie bei Erwärmung früher die für die Beweglichkeit notwendige Temperatur erreichen als die anderen wechselwarmen Tiere. Die der Sonne ausgesetzten Vorformen der Flügel sollen mit einem dichten Netz von Adern durchzogen gewesen sein. Die Wärme, die durch Sonnenbestrahlung aufgenommen wurde, könnte so effizient in den Körper transportiert worden sein. In den Adern der Flügel gespeicherte Wärme würde auch eine Verlängerung des Aktivitätszeitraums bei Abkühlung ermöglichen. Die einfachste Art, die Körperoberfläche zu vergrößern und gleichzeitig das zu erwärmende Volumen klein zu halten, sind Auswüchse der Körperoberfläche in Form dünner Platten, die im Idealfall bei Erwärmung entfaltet, bei Abkühlung dicht am Körper gehalten werden und bei Entfaltung jeweils so gedreht und geneigt werden können, dass sie in günstigem Winkel zur Sonneneinstrahlung stehen.

Zur Abwägung dieser Hypothesen müsste zumindest etwas über die fragliche Insektengruppe, bei der die Entwicklung der Flügel einsetzte, bekannt sein. Je nachdem, ob es sich um Wasser- oder Landtiere gehandelt hat, wird die eine oder andere Hypothese plausibler, je nach Größe haben die aerodynamischen Überlegungen mehr Gewicht, je nach Lebensweise und Fortpflanzungsbiologie müssen die Hypothesen verschieden bewertet werden.

Fossile Funde der Gattungen Stenodictya aus dem Karbon und Lemmatophora aus dem Perm (vor 270 Millionen Jahren) zeigen neben einfachen Flügeln am mittleren und hinteren Brustabschnitt flügelstummelähnliche seitlich abstehende Auswüchse am ersten Brustsegment. Diese früher als reduziertes drittes Flügelpaar angesehenen Stummel finden heute mit mehreren der oben genannten Hypothesen eine weit schlüssigere Erklärung. In allen Fällen ist eine schnelle Zunahme der Flügelgröße und -beweglichkeit zu erwarten. Genügend große Auswüchse würden die Möglichkeit des Gleitfluges und der Verdriftung durch Wind ermöglichen und somit den Funktionswechsel zu Fortbewegungsorganen einleiten.

Um die Herkunft der Insektenflügel zu rekonstruieren, haben kürzlich Wissenschaftler der japanischen Forschergruppe um Shigeo Hayashi die Expression von drei für die Flügelausformung entscheidenden Regulatorgenen bei Vertretern zweier Insektengruppen studiert, nämlich bei geflügelten, aber sehr ursprünglichen Eintagsfliegen (Ephemeroptera) und bei Silberfischchen, also ungeflügelten Urinsekten der Ordnung Zygentoma.

Verschiedene Körperanhänge dieser ursprünglichen Gruppen wurden bereits vorher als Vorläufer der Flügel in Betracht gezogen. Die Ergebnisse lassen sich so interpretieren, dass bei den ungeflügelten Urinsekten zwei getrennte, entwicklungssteuernde Module präsent sind. Das eine wirkt auf die Körperseiten (lateral) ein und steuert die Ausbildung des oberen, stäbchenförmigen Asts der verzweigten Gliedmaßen. Das andere wirkt auf die Nahtstelle zwischen Körperseite und Rücken und steuert dort die Ausbildung von flachen, schildförmigen Auswüchsen.

Die Autoren schlagen ein Modell vor, nach dem die oberen (dorsalen) Äste der Gliedmaßen in den Bereich der Nahtstelle zwischen Körperseite und Rücken einbezogen wurden, und die Form der dort vorkommenden, flachen Auswüchse annahmen. Das geschah durch die einfache Integration der beiden vorher getrennten Steuer-Module, so dass anschließend sowohl die flache, zweischichtige Bauform der Flügel verfügbar wurde, als auch die (zu den Gliedmaßen gehörige) Muskulatur, die Bewegungen ausführen konnte. Dadurch wurde eine rasche Evolution der Insektenflügel möglich. Das vorliegende Modell zeigt, dass sich selbst große Bauplanänderungen, die eine enorme Auswirkung auf die Ökologie und weitere Stammesgeschichte einer Tiergruppe haben, auf der Ebene der Entwicklungssteuerung durch relativ wenige Veränderungsschritte erklären lassen.

Die Entdeckung der fossilen Larven der Coxoplectoptera lieferte 2011 neue Hinweise zur Klärung des evolutionären Ursprungs der Insektenflügel, die zu einer ähnlichen Hypothese, wie derjenigen der Hayashi-Arbeitsgruppe führte. Bislang galten die zwei Theorien, Paranotal-Theorie und Epicoxal-Theorie, als unvereinbare Alternativen, für die jeweils unterschiedliche Evidenzen aus Fossilbericht, vergleichender Morphologie, Entwicklungsbiologie und Genetik sprachen. Der Nachweis, dass Beingene bei der Ontogenese der larvalen Flügelanlagen exprimiert werden, galt als überzeugender Beleg für die Epicoxal-Theorie, die den Insektenflügel von umgewandelten, beweglichen Ästen (Exiten) der Spaltbeine herleitet. Die Larven der Coxoplectoptera zeigen jedoch, dass die Hinterleibskiemen der Eintagsfliegen und ihrer Ahnen, die als den Flügeln seriell entsprechende Organe gelten, innerhalb der Rückenschilde entspringen. Bei modernen Eintagsfliegen ist dies nicht erkennbar, da im Hinterleib der Larven die Rücken- und Bauchschilde stets zu Ringen verwachsen sind, und auch embryonal keine Hinweise zu finden sind. Wenn Larvenkiemen und Flügel sich entsprechende (seriell homologe) Strukturen sind und somit gleichen evolutionären Ursprung haben, so bedeutet der Befund der Coxoplectoptera-Larven, dass auch die Flügel tergalen Ursprungs sind, wie es die klassische Paranotal-Theorie besagte. Staniczek, Bechly & Godunko (2011) schlugen daher eine neue Hypothese vor, die die neuen paläontologischen Befunde mit den Ergebnissen der Entwicklungsgenetik in Einklang bringen könnte. Demnach seien Flügel zunächst als starre Auswüchse der Rückenschilde (Paranota) entstanden, und erst später in der Evolution wären diese Auswüchse durch die sekundäre „Rekrutierung“ von Beingenen beweglich geworden.