Lebenswelt

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Als Lebenswelt bezeichnet man die menschliche Welt in ihrer vorwissenschaftlichen Selbstverständlichkeit und Erfahrbarkeit in Abgrenzung zur theoretisch bestimmten wissenschaftlichen Weltsicht. Der Begriff erlangte vor allem in der Phänomenologie Husserls und in seiner soziologischen Interpretation durch Alfred Schütz und später durch Jürgen Habermas Bedeutung. Aktuell wird der Lebensweltbegriff in konstruktivistischen Theorieansätzen genutzt, bzw. reformuliert wie z.B. bei Jürgen Mittelstraß oder Björn Kraus.

Erste Verwendungen[Bearbeiten]

Der Begriff der Lebenswelt hat seinen Ursprung im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts. Bereits Heinrich Heine benutzt ihn 1836 in seinen Florentinischen Nächten. Später wird der Begriff insbesondere in der Biologie und Botanik einschlägig, bevor er dann innerhalb der Philosophie seine Karriere beginnt, u. a. bei Karl Joël und Rudolf Eucken. Ernst Troeltsch gebraucht den Begriff der Lebenswelt in religionsphilosophischer Wendung. Er spricht von der „christlichen Lebenswelt“, die eine Vermittlung des traditionellen Offenbarungsglaubens mit den historischen Erscheinungsformen christlich-religiösen Lebens leisten soll. Kennzeichnend wird der Begriff vor allem für die Lebensphilosophie (G. Simmel, W. Dilthey). Hans Freyer sprach von den „apriorischen Tatsachen der Lebenswelt“. Martin Heidegger verwendete den Begriff in seinen frühen Vorlesungen während er in Sein und Zeit nicht mehr vorkommt. Hier ist das begriffliche Äquivalent das „In-der-Welt-Sein“ als „Grundverfassung des Daseins“

Husserl[Bearbeiten]

Im Kontext der Phänomenologie Husserls wird der Begriff der Lebenswelt zu einem zentralen Gegenstand der Philosophie.

Husserl entwickelt den Begriff in seinem Werk Die Krisis der Europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie im Rahmen seiner Überlegungen zur allgemeinen „Krise der Europäischen Wissenschaften“. In der voll ausgearbeiteten Fassung, die erst postum veröffentlicht wurde, findet sich das Kapitel „Der Weg in die phänomenologische Transzendentalphilosophie in der Rückfrage von der vorgegebenen Lebenswelt aus.“ Nach Husserl verblendeten die positiven Wissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Menschen durch die ihnen verdankte wirtschaftliche und technische Prosperität. Um die Jahrhundertwende vollzog sich hingegen eine allgemeine Umbewertung, eine zunehmende Kritik an diesen Wissenschaften, welche sich gerade vom tatsächlichen Leben und von jenen Fragen abwandten, die „für ein echtes Menschentum die entscheidenden sind“:

„In unserer Lebensnot – so hören wir – hat diese Wissenschaft uns nichts zu sagen. Gerade die Fragen schliesst sie prinzipiell aus, die für den in unseren unseligen Zeiten den schicksalsvollsten Umwälzungen preisgegebenen Menschen die brennenden sind: die Fragen nach Sinn oder Sinnlosigkeit dieses ganzen menschlichen Daseins.“

Die Ursache dieser Krise erblickt Husserl darin, dass vergessen wurde, dass alle Wissenschaft in der Lebenswelt gründet. Die Lebenswelt ist der selbstverständliche, unbefragte Boden sowohl jeglichen alltäglichen Handelns und Denkens wie auch jeden wissenschaftlichen Theoretisierens und Philosophierens. Sie ist die „primordiale Sphäre“ – nicht nur, weil sie auch ohne die neuzeitliche Wissenschaftskonzeption mit ihrem objektiven Wahrheitsbegriff existierte, sondern auch weil viele der lebensweltlichen Sinnes- und Geltungssetzungen für jedes wissenschaftliche Argumentieren notwendigerweise vorausgesetzt werden müssen.

Husserl verwendet den Begriff der Lebenswelt in einem doppeldeutigen Sinn: Er meint einerseits das Universum des Selbstverständlichen, als anthropologisches Fundament jeder Bestimmung des Verhältnisses des Menschen zur Welt, und er bezeichnet andererseits die praktische, anschauliche und konkrete Lebenswelt. Diese Doppeldeutigkeit spannt den Lebensweltbegriff in den Gegensatz zwischen Ahistorischem und historisch Wandelbarem, Universellem und Konkretem, zwischen Singulärem und historisch Vielfältigem ein. So wird er zur Basis der Kritik und zum Gegenstand der Aufklärung zugleich.

Der Lebenswelt als der unveränderlichen Wahrnehmungswelt des gegenständlich Seienden steht die durch den Menschen geprägte soziohistorisch-kulturelle Umwelt gegenüber.

Quellen[Bearbeiten]

  • Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-518-28349-9.