Anatomie

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Die Anatomie (dem Erkenntnisgewinn dienende ‚Zergliederung‘ von tierischen und menschlichen Körpern; aus gr. aná, auf, und tomḗ, das Schneiden, der Schnitt) ist ein Teilgebiet der Morphologie und in der Medizin bzw. Humanbiologie (Anthropotomie), Zoologie (Zootomie) und Botanik (Phytotomie) die Lehre vom Bau der Organismen. Es werden Gestalt, Lage und Struktur von Körperteilen, Organen, Geweben oder Zellen betrachtet. Die pathologische Anatomie befasst sich mit krankhaft veränderten Körperteilen. Die mikroskopische Anatomie befasst sich mit den feineren biologischen Strukturen bis zur molekularen Ebene und knüpft an die Molekularbiologie an. Die klassische Anatomie verwendet eine standardisierte Nomenklatur, die auf der lateinischen und der griechischen Sprache basiert.

Ein mit der Anatomie befasster Arzt oder Naturwissenschaftler ist ein Anatom.

Der Begriff Anatomie wird schon seit dem frühen 16. Jahrhundert (auch als anatomei) auch allgemeiner und übertragen verwendet in der Bedeutung „Zergliederung, Strukturbestimmung, Analyse von konkreten und abstrakten Dingen“, auch „Struktur, (Auf-)bau“, z.B. Anatomie des Bodens, der Kunst, der Gedanken, der Gesellschaft.

Geschichte[Bearbeiten]

Zitat:
„Ärzte ohne Anatomie sind Maulwürfen gleich: sie arbeiten im Dunkeln, und ihrer Hände Tagwerk sind Erdhügel.“ (Friedrich Tiedemann).

Die frühesten erhaltenen anatomischen Studien finden sich im Papyrus Edwin Smith, der auf das 17. Jahrhundert v. Chr. datiert wird. Behandelt werden u.a. das Herz und die Herzkranzgefäße, Leber, Milz und Nieren, Hypothalamus, Gebärmutter und Blase sowie die Blutgefäße.

Der Papyrus Ebers aus dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts v. Chr. enthält ein Traktat zum Herzen, in dem auch die Blutgefäße beschrieben werden.

Nomenklatur, Methodik und Anwendungen gehen auf die griechischen Ärzte der Antike zurück. Beschreibungen von Muskeln und Skelett finden sich im Corpus Hippocraticum, wobei in der hippokratischen Medizin die menschliche Physiologie eine größere Bedeutung hatte als die Anatomie. Aristoteles beschrieb anhand der Sektion von Tieren die Anatomie der Wirbeltiere. Praxagoras von Kos kannte bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. den Unterschied zwischen Arterien und Venen.

Anfänge einer systematischen Anatomie entstanden im alten Babylon. Eine erste anatomische Schule gab es im 2. Jahrhundert v. Chr. in Alexandria. Die Herrscher des Ptolemäerreiches (in Betracht kommen Ptolemaios I. und vor allem Ptolemaios II.) erlaubten dort die Leichenöffnung für anatomische Studien, meist an Exekutierten. Herophilos von Chalkedon (geboren im letzten Drittel des 4. Jahrhunderts v. Chr.) führte die ersten wissenschaftlichen Obduktionen und auch Vivisektionen an Mensch und Tier durch. Er soll 600 Strafgefangene lebend seziert haben und gilt als „Vater der Anatomie“. Er verwarf die Ansicht von Aristoteles, das Herz sei der Sitz des Intellekts und nannte dafür das Gehirn. Weitere Anatomen in Alexandria waren Erasistratos (im 3. Jahrhundert v. Chr.) und Eudemos von Alexandria. Herophilos und Erasistratos gelten als Begründer der anatomischen Studien an menschlichen Leichen.

Die von Rufus von Ephesos im 2. Jahrhundert verfasste Abhandlung Über die Bezeichnung der Körperteile des Menschen ist das älteste erhaltene anatomische Lehrbuch, dessen Hauptanliegen die Vermittlung anatomischer Nomenklatur war. Gemäß Rufus wurde der theoretische Unterricht durch Veranschaulichungen an lebenden Personen ergänzt, wobei die äußeren Körperteile an Sklaven demonstriert wurden.

Galenos von Pergamon fasste im 2. Jahrhundert n. Chr. das medizinische Wissen der antiken Ärzte systematisch zusammen, unter anderem in einem 15-bändigen Anatomie-Werk Über die Verfahrensweise beim Sezieren. Als Arzt von Gladiatoren konnte er verschiedenste Arten von Wunden und so auch die Anatomie des Menschen genau studieren. Weitere Studien betrieb er an Schweinen und Affen. Seine Schriften bildeten die Basis für die Werke des Mittelalters, so auch für den Kanon der Medizin von Avicenna.

Seit etwa 1300 wurden, vor allem in Oberitalien, gelegentlich anatomische Lehrsektionen vorgenommen. Derartige Demonstrationen dienten jedoch vor allem dem Zweck, die Lehren der antiken Autoren bzw. Autoritäten zu bestätigen. Das Lehrbuch der Anatomie von Mondino dei Luzzi († 1326) beruht zum Teil schon auf eigenen Sektionsbefunden.

Ab dem 15. Jahrhundert erfuhr die Anatomie, inspiriert durch Ideen des Humanismus und der Renaissance, neue Impulse. Nachdem im Mittelalter die Anatomie keine großen Fortschritte gemacht hatte, korrigierte der flämische Anatom Andreas Vesalius (1514–1564) die über Jahrhunderte kaum hinterfragten Annahmen bzw. Glaubenssätze, was viele seiner Kollegen empörte. Seine die Anatomie reformierende Arbeit machte ihn zum Begründer der modernen Anatomie. Ausgehend von oberitalienischen Vorbildern erlangte der anatomische Unterricht mittels des Sezierens von menschlichen Leichen im 16. Jahrhundert auch im deutschsprachigen Raum seine Verbreitung. So etwa ab spätestens 1530 in Deutschland, ab 1535 durch Burghard Mithobius (1501–1564) an der Universität Marburg.

Weitere bedeutende Anatomen des 16. Jahrhunderts waren etwa Gabriele Falloppio, Bartolomeo Eustachi, Giulio Cesare Aranzio und Giovanni Battista Canano (1515–1579, genannt auch Giambattista Canano), am Übergang zum 17. Jahrhundert etwa Girolamo Fabrizio ab Acquapendente, Adriaan van den Spieghel, Felix Platter und Caspar Bauhin.

Die Begründung des modernen anatomischen Denkens erfolgte um 1543 bis 1638. William Harvey (1578–1657) gilt als Entdecker des Blutkreislaufs und als Wegbereiter der modernen Physiologie.

Die Anatomie nahm seit dem 16. Jahrhundert einen hohen Stellenwert in den bildenden Künsten ein, Sektionen an Menschen und Tieren gehörten zur Grundausbildung der Studenten. Künstler wie Michelangelo, Raffael, Dürer und Leonardo da Vinci brachten Jahre mit dem Studium des menschlichen Körpers zu. Da Vincis Codex Windsor übertraf in seiner wissenschaftlichen Genauigkeit die Arbeiten des 62 Jahre später geborenen Vesalius. Die enge Zusammenarbeit von Künstlern und Anatomen ließ medizinische Schriften von außergewöhnlich hoher Qualität entstehen wie zum Beispiel das Lehrbuch des Flamen Philip Verheyen (1648–1710).

Im Zeitalter der Aufklärung errichtete man anatomische Theater, die neben dem wissenschaftlichen Wert einen hohen Schauwert hatten.

Bedeutende Anatomen des 17. Jahrhunderts waren in England unter anderem Francis Glisson, Thomas Wharton, Nathaniel Highmore, William Cowper sowie Thomas Willis, in den Niederlanden Reinier de Graaf, Jan Swammerdam, Frederik Ruysch, Nicolaes Tulp sowie Anton Nuck, und in Frankreich Jean Riolan, Raymond Vieussens, Jean Pecquet sowie der Genfer Théophile Bonet.

Bedeutende Anatomen des 18. Jahrhunderts waren in Italien unter anderem Antonio Valsalva und Giovanni Domenico Santorini, in Frankreich François Pourfour du Petit und Joseph Lieutaud, in England James Douglas, William Hunter und John Hunter, in den Niederlanden Bernhard Siegfried Albinus und Peter Camper und in Deutschland beispielsweise Carl Caspar von Siebold, Johann Zinn, Johann Nathanael Lieberkühn, Samuel Thomas von Soemmerring, Heinrich August Wrisberg und Johann Friedrich Meckel.

Das erste bedeutende japanische Anatomiebuch entstand ab 1754 durch Yamawaki Tōyō. Den ersten populär gewordenen fotografischen Anatomieatlas veröffentlichten 1982/83 Johannes W. Rohen und Chihiro Yokochi.

Zu den bedeutenden Anatomen des 19. Jahrhunderts gehörte etwa Albert von Koelliker, zu denen des 20. Jahrhunderts etwa Anton Johannes Waldeyer, Professor an der Universität Berlin, der in den 1940er Jahren ein Lehrbuch publizierte.

Durch die intensive Anwendung der Gewebezüchtung auf die Zellenlehre durch Alexis Carrel sowie die Berücksichtigung anthropologischer Fragen, von Umwelteinflüssen und der Auswirkungen der Lebensweise und Beschäftigung auf die Konstitution der Menschen erweiterte die Anatomie zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihr Arbeitsfeld. Ab etwa 1925 wurde die Anatomie vermehrt vom funktionellen Gedanken geleitet (beispielsweise Hermann Braus, im Gegensatz zu Vertretern der biologisch eingestellten vergleichenden Anatomie wie Hans Böker), wendet sich zunehmend praktischen Zielen zu und arbeitete eng mit der Vertretern der praktischen Heilkunde und der Hygiene zusammen.