Indischer Aufstand von 1857

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Der Indische Aufstand von 1857, auch Sepoyaufstand genannt, richtete sich gegen die Kolonialherrschaft der Britischen Ostindien-Kompanie über den indischen Subkontinent. Der Aufstand war überwiegend auf das obere Gangestal und Zentralindien beschränkt. Zentren des Aufstands waren Uttar Pradesh, Bihar, der Norden von Madhya Pradesh und die Region um Delhi.

Der Beginn des Indischen Aufstands von 1857 wird meist auf den 10.05.1857 datiert. An diesem Tag kam es in Merath zu einem offenen Aufstand von hinduistischen und muslimischen Soldaten gegen ihre britischen Befehlshaber. Die meuternden Truppen zogen nach Delhi ab, das sich bereits am 11. Mai in der Hand der Aufständischen befand. In Delhi kam es wie zuvor in Merath zu Morden an Briten und Eurasiern sowie an Indern, die zum Christentum übergetreten waren. An diesen Massakern waren nicht nur Sepoys, sondern auch Teile der indischen Zivilbevölkerung beteiligt. In den folgenden Wochen und Monaten dehnte sich der Aufstand über Nordindien aus. Einzelne britische Garnisonen wie Lakhnau und Kanpur verteidigten sich dabei – teils mit Hilfe loyal gebliebener Sepoys – mehrere Wochen lang gegen eine Übermacht aufständischer Truppen. Die Ermordung britischer Zivilisten wurde von britischen Truppen als Rechtfertigung für eine Kriegsführung genommen, die bereits von Zeitgenossen als unangemessen grausam und ethisch zweifelhaft bewertet wurde. In der indischen Geschichtsschreibung nimmt Lakshmibai, Rani von Jhansi, eine besondere Rolle ein. Die Fürstin schloss sich dem Aufstand nur zögernd an und entschied sich für eine aktive Unterstützung erst, als sie darin die einzige Möglichkeit sah, den Machtanspruch ihrer Familie zu sichern. Sie fiel am 17.06.1858 im Gefecht bei Khota-ki-Serai nahe Gwalior. Der Aufstand war im Laufe des Jahres 1858 bereits weitgehend zu Gunsten der Briten entschieden. 1859 gab es noch einzelne Auseinandersetzungen; der Indische Aufstand endete nach allgemeinem Verständnis erst in diesem Jahr. Nach der Niederschlagung wurde die Ostindien-Kompanie durch den Government of India Act 1858 aufgelöst und Britisch-Indien zu einer formellen Kronkolonie.

Als Auslöser des Aufstands gilt gemeinhin die Einführung des Enfield-Gewehres, dessen Papierpatronen nach einem unter britisch-indischen Streitkräften weit verbreiteten Gerücht mit einer Mischung aus Rindertalg und Schweineschmalz behandelt waren. Da die Patronen vor dem Einsatz aufgebissen werden mussten, stellte ihre Verwendung für gläubige Hindus wie Moslems einen Verstoß gegen ihre religiösen Vorschriften dar. Als eigentliche Ursachen gelten die von der Britischen Ostindien-Kompanie verfolgte Sozial- und Wirtschaftspolitik, durch die weite Teile der indischen Bevölkerung Landrechte, Beschäftigungsmöglichkeiten und Einfluss verloren, die im 19. Jahrhundert zunehmenden Anstrengungen, Indien zu christianisieren, sowie die Annexion indischer Fürstenstaaten durch Anwendung der Doctrine of Lapse. Es besteht in der Geschichtsschreibung kein Konsens, welchem dieser Faktoren ein besonderes Gewicht zukommt. Historiker haben auch in Abhängigkeit ihres eigenen kulturellen, religiösen und politischen Standpunktes die Ursachen des Aufstands sehr unterschiedlich gewichtet.

Bezeichnung[Bearbeiten]

In der englischen Literatur werden die Ereignisse in Nordindien aus dem Jahre 1857 bis 1859 meistens als Indian Mutiny oder Sepoy Mutiny (engl. mutiny „Meuterei, Befehlsverweigerung“) bezeichnet. Der Begriff sepoy (von pers. sipahi „Soldat“) bezieht sich im engeren Sinne nur auf indische Infanteristen, die in den Armeen der Britischen Ostindien-Kompanie Dienst taten. Im Kontext des Indischen Aufstandes wird die Bezeichnung sepoy auch für die eigentlich als Sawaren bezeichneten indischen Kavalleristen verwendet.

Bereits Zeitgenossen des Aufstands kritisierten, dass die Bezeichnung als „Meuterei“ das Ausmaß der Ereignisse nicht ausreichend wiedergibt, da sich schnell weite Teile der indischen Bevölkerung den meuternden Soldaten angeschlossen hatten. Die Mehrzahl der zeitgenössischen britischen Geschichtsschreiber war sich einig, dass es sich bei den Ereignissen in Indien um mehr als eine Meuterei einiger Regimenter, aber um weniger als eine nationale Revolte handelte. Der zeitgenössische britische Historiker John William Kaye gab dementsprechend seiner für das 19. Jahrhundert maßgebenden dreibändigen Geschichte des Aufstands den Titel History of the Sepoy War in India. Die Dominanz der Bezeichnung mutiny im kollektiven Geschichtsverständnis der Briten ist auf die damals vorherrschende politische Deutung des Aufstandes zurückzuführen. Ein durch die Ereignisse in seinem Selbstverständnis erschüttertes Empire konnte den Schein einer unbescholtenen Integrität besser wahren, wenn es von einer Meuterei statt von einer nationalen Revolte sprach. In der britischen Historiographie ist die Bezeichnung mutiny nach wie vor weitgehend gebräuchlich.

Die indische Geschichtsschreibung lehnt die britische Bezeichnung mutiny überwiegend als wertend ab und betont, dass die Ereignisse den Charakter eines Volksaufstandes hatten. 1909 nannte Vinayak Damodar Savarkar ihn den „ersten indischen Unabhängigkeitskrieg“ („first war of Indian independence“). Eine Reihe von Hindunationalisten verwenden diese Bezeichnung noch heute. Sowohl ein Teil der modernen indischen wie auch die britische Historiographie lehnen die Deutung der Ereignisse als einen Unabhängigkeitskrieg als zu weitgehend ab, da sich die Aufstände auf die nördlichen Gebiete Indiens beschränkten und die übrigen indischen Territorien der East India Company gegenüber loyal blieben.

Geschichtlicher Hintergrund und Ursachen des Aufstands[Bearbeiten]

Vorherrschaft der britischen Ostindien-Kompanien in Indien[Bearbeiten]

Im 17. Jahrhundert war das Mogulreich die beherrschende Macht auf dem indischen Subkontinent. Das Mogulreich, das keinen festgefügten Staat, sondern ein Konglomerat aus Reichsprovinzen, untergeordneten Fürstenstaaten und halbautonomen Städten und Dörfern darstellte, war zu dieser Zeit bereits im Niedergang begriffen. Im Zuge dieser Entwicklung begannen viele europäische Mächte, Handelsstationen in Indien zu errichten, um den in Europa aufgekommenen Bedarf an Produkten wie Baumwolle, Chintz, Porzellan, Tee und Seide zu befriedigen. Am erfolgreichsten war dabei die Britische Ostindien-Kompanie, der es gelang, ihre europäischen Konkurrenten bis auf wenige Ausnahmen zu verdrängen. 1693 unterhielt sie Handelsstationen in Madras, Bombay und Kalkutta.

Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts war das Mogulreich in mehrere, sich zum Teil bekriegende Staaten zerfallen. Um ihren Handel in diesem politischen Umbruch zu schützen, begann die Kompanie zunehmend, einheimische Soldaten oder „Sepoys“ zu rekrutieren. Die Kompanie wandelte sich hierbei zunehmend von einer Handels- in eine politische Macht. In den Jahren 1773 und 1784 verabschiedete das britische Parlament Gesetze, die der Kompanie direkte Eingriffe in die inneren Angelegenheiten Indiens erlaubten. Bis 1857 hatte die Kompanie weite Teile des Subkontinents militärisch erobert oder auf unblutigem Wege annektiert. Letzteres geschah meist durch die Doctrine of Lapse, die durch Lord Dalhousie, von 1847 bis 1856 Generalgouverneur von Britisch-Indien, eingeführt wurde. Die Doctrine of Lapse bestimmte, dass jeder Fürstenstaat, dessen Herrscher sich unfähig zeigte oder ohne Erben starb („manifestly incompetent or died without a direct heir“), von der Kompanie zu annektieren sei. Satara (1848), Jaitpur, Sambalpur (1849), Nagpur, Jhansi (1854) und Oudh (1856) fielen so an die Kompanie. Zu Beginn des Aufstandes befanden sich so zwei Drittel des Subkontinents unter direkter britischer Herrschaft, wobei vielerorts allerdings die lokale Macht und die Regelung innerer Angelegenheiten zu großen Teilen in den Händen angestammter Adelsgeschlechter verblieben. Die Annexion von Oudh gilt als einer der Mitauslöser des Aufstands von 1857. Die Britische Ostindien-Kompanie verfolgte in diesem Teil Indiens eine sehr strenge Steuerpolitik, in deren Folge sehr viele Landbesitzer große Teile ihres Besitzes verloren. Mehr als 60 Prozent der indischen Sepoys stammten aus dieser indischen Provinz.