Ousia

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Ousia (gr. ousía, auch als usía transkribiert, „Sein“, „Wesen“, wörtlich „Seiendheit“) ist ein zentraler Begriff der antiken griechischen Ontologie. Es handelt sich um ein mit dem Partizip on („seiend“) etymologisch verwandtes Substantiv.

Gängig ist die Übersetzung mit „Substanz“ (bzw. lateinisch essentia). Sie ist aber problematisch, da sie nur einen Teil des Bedeutungsspektrums von ousia wiedergibt. Generell bezieht sich der Begriff auf das Sein unter dem Gesichtspunkt von dessen Beständigkeit und auf das „Wesen“ oder die „Natur“ von etwas als den konstanten Faktor, der eine fortdauernde oder zeitunabhängige Identität begründet. Den Gegensatz zu ousia bilden wechselhafte Eigenschaften, deren Auftreten oder Wegfall die Identität ihres Trägers nicht berührt.

Herkunft und Geschichte des Begriffs[Bearbeiten]

Die Ableitung aus einer Wurzel mit der Bedeutung „sein“ gilt als sicher, die etymologische Entwicklung kann aber nur hypothetisch rekonstruiert werden. Die älteste belegte Bedeutung von ousia ist „Vermögen“, „Eigentum“. Dieser Wortgebrauch kommt schon bei Herodot und noch in der römischen Kaiserzeit vor. Insbesondere diente das Wort zur Bezeichnung von Immobilien. Am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. hatte es auch die Bedeutung „Realität“ oder „wirkliche Existenz“.

In die philosophische Terminologie wurde ousia als Fachbegriff im 4. Jahrhundert v. Chr. von Platon eingeführt. Er bezeichnete damit das ontologisch Stabile, Unveränderliche und Wesentliche, wobei er an die mit Grundbesitz verbundene Vorstellung von Beständigkeit anknüpfen konnte. In diesem philosophischen Sinn drückt ousia aus, dass etwas die Eigenschaft aufweist, im Sinne eines beständigen Seins „seiend“ zu sein. Darauf bezieht sich die wörtliche Übersetzung „Seiendheit“. Da Platon nur ein wahrhaftes Sein im Sinne einer unveränderlichen Wirklichkeit meint, kann ousia auch mit „Wirklichkeit“ übersetzt werden. Zugleich bezeichnet Platon mit ousia auch das Wesen eines Dings (das, was dem Ding seine dauerhafte Identität verleiht). Je nach dem jeweiligen Zusammenhang ist Platons ousia in manchen Fällen mit „Sein“ (Seiendheit), in anderen mit „Wesen“ zu übersetzen. Daneben kommen bei ihm noch weitere Bedeutungen vor, woraus ersichtlich ist, dass der philosophische Wortgebrauch in der Anfangsphase noch nicht eindeutig fixiert war.

Auch bei Aristoteles ist eine naturgegebene Konstanz das, was die ousia ausmacht. Für ihn ist eine ousia ein einzelnes Ding, das als solches eigenständig existiert. Ermöglicht wird diese Existenz durch das Vorhandensein eines stabilen Substrats, das die konstante Identität des Dings trotz aller Veränderungen variabler Eigenschaften gewährleistet. In diesem Substrat, das dem Dasein des Einzeldings zugrunde liegt, besteht dessen ousia; das Ding als solches ist das Substrat. Daher wurde schon in der Antike ousia lateinisch mit substantia wiedergegeben, einem Substantiv, das zum Verb substare gehört, das „darunter (oder dabei, darin) vorhanden sein“, „zugrunde liegen“ bedeutet. Davon ist das deutsche Fremdwort „Substanz“ abgeleitet.

Substantia drückt zwar aus, dass etwas zugrunde liegt, umfasst aber nicht die Gesamtheit dessen, was im Griechischen mit ousia gemeint sein kann. Es handelt sich nicht um eine getreue Übersetzung, denn substantia lässt den Zusammenhang von ousia mit dem Sein nicht erkennen. Schon in der Antike wurde auch eine andere, wörtliche lateinische Übersetzung verwendet, die auf die Grundbedeutung „Seiendheit“ Bezug nimmt: essentia, abgeleitet vom Verb esse („Sein“). Das Kunstwort essentia wurde eigens zum Zweck der Wiedergabe von ousia geschaffen. Sein Schöpfer war Cicero, wie Seneca berichtet. In der Spätantike verwendeten manche Autoren (Augustinus, Calcidius) essentia noch als Synonym des gebräuchlicheren Ausdrucks substantia. Unter dem Einfluss des Aristoteles-Übersetzers Boethius bürgerte sich aber eine Unterscheidung ein, die für die Begriffsverwendung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Philosophen maßgeblich wurde. Nach diesem Verständnis ist substantia die Standardübersetzung von ousia und drückt dessen Substrat-Aspekt aus; essentia hat die Bedeutung „Wesen“ („Washeit“) und steht für die charakteristische Natur eines Dings, die diesem die Definitionsmerkmale und damit ein bestimmtes Sein verleiht. Substantia bezieht sich auf das Sein, das dem Einzelding als solchem zukommt, essentia auf die Art- und Gattungsnatur, welche die Einzeldinge aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu Arten und Gattungen aufweisen.

In moderner philosophiegeschichtlicher Literatur wird ousia meist – je nach Zusammenhang – mit „Sein“, „Wesen“ oder „Substanz“ übersetzt. Die gängige Übersetzung „Substanz“ wird aber auch als Verengung des Bedeutungsgehalts kritisiert; nachdrücklich verwirft sie der Philosoph Rudolf Boehm, der sie als unzulänglich und daher verfehlt kritisiert. Auch Wolfgang Schneider meint, dass „Substanz“ den Sinn von ousia unzulänglich wiedergibt. Er plädiert für „Seiendheit“, die schon von Martin Heidegger verwendete Übersetzung. Hermann Schmitz hält – soweit es sich um Texte des Aristoteles handelt – „Wesen“ für die beste Übersetzung, da das deutsche Wort ebenso wie das griechische sowohl als zweistelliges Prädikat als auch als einstelliges verwendet werden kann.

Platon[Bearbeiten]

Platon, der den Fachbegriff ousia in die Philosophie eingeführt hat, verbindet damit verschiedene Bedeutungsaspekte. Bezogen auf die Gesamtheit des Wirklichen ist ousia das in jedem Seienden vorhandene, allem Wirklichen gemeinsame Merkmal „Sein“, das den Wirklichkeitscharakter der seienden Dinge ausmacht. Bezogen auf den Gegensatz zwischen dem Unwandelbaren und dem Veränderlichen ist ousia das Sein des Unveränderlichen im Gegensatz zum Werden der entstehenden und vergehenden Phänomene. Bezogen auf die vergänglichen Objekte der Sinneswahrnehmung bezeichnet ousia das, was deren fortdauernde Identität im Wandel begründet: die Gesamtheit der konstanten Merkmale, aufgrund deren die Objekte definiert werden können.

Ousia im Bereich des Vergänglichen[Bearbeiten]

Platon betrachtet das Definieren als eine zentrale Aufgabe des Philosophen. Dabei kommt es darauf an, diejenigen Merkmale, die ein Ding zu dem machen was es ist, korrekt und vollständig anzugeben, um es von allem anderen abzugrenzen. Ein Ding definieren bedeutet daher seine ousia zu bestimmen. Wer dazu in der Lage ist, hat eine richtige und umfassende Erkenntnis dieses Dings gewonnen und damit echtes Wissen darüber erlangt.

Die ousia eines Dings X ist durch die Definitionsmerkmale festgelegt, die es ermöglichen, die Frage „Was ist X?“ eindeutig und wahrheitsgemäß zu beantworten. Wenn von einem sinnlich wahrnehmbaren Objekt, das als solches immer der Veränderung unterworfen ist, die Rede ist, dann muss es sich um die konstanten Merkmale handeln, die einem bestimmten Ding, solange es als solches existiert, immer und überall zukommen und das Beständige an ihm ausmachen. Somit können sich diese Merkmale nicht auf das einzelne Sinnesobjekt hinsichtlich seiner variablen besonderen Beschaffenheit beziehen. Vielmehr müssen sie das betreffen, was der Identität des Objekts ihre Stabilität verleiht: seine Zugehörigkeit zu einer Art. Auf ein Sinnesobjekt bezogen ist ousia daher stets die ousia der Art, der es angehört.

Ein einzelnes sinnlich wahrnehmbares Ding hat somit als solches keine eigene, ihm innewohnende ousia, sondern das, was ihm ousia – sein Sein und sein Wesen – verleiht, ist seine Art. Sie ist der eigentliche Träger der gesamten ousia. Alle Beobachtungen, die der Philosoph an einzelnen Sinnesobjekten macht, dienen nur dem Zweck, anhand von Beispielen das Wesen der Arten und Gattungen, denen diese Objekte angehören, zu bestimmen. Das Ziel ist herauszufinden, wie sich die Arten und Gattungen im Rahmen einer hierarchischen Ordnung zueinander verhalten. Nur Arten und Gattungen sind definierbar. Daher sind nur sie mögliche Gegenstände wissenschaftlicher Erkenntnis.

Aus Platons Sicht ist somit das, was im Bereich der Sinneswahrnehmung real ist, nicht das, was sich den Sinnen unmittelbar darbietet – die einzelnen Sinnesobjekte –, sondern das in den Sinnesobjekten gegebene Allgemeine: die wesensbestimmenden Merkmale, die sie jeweils mit allen anderen Objekten derselben Art gemeinsam haben. Diese Merkmale existieren unabhängig vom zufälligen Fortbestand oder Untergang der einzelnen sinnlich wahrnehmbaren Dinge, in denen sie erscheinen. Das Wesen einer Art ist eine überzeitliche, keinerlei Veränderung unterworfene Gegebenheit.

Daraus ergibt sich für Platon eine hierarchische Ordnung der Ebenen, auf denen ousia vorkommt. Das artspezifische Allgemeine ist als der wahre Träger der ousia generell höherrangig als das, was die Besonderheit des Individuellen ausmacht. Von ousia als einem Sein und Wesen des Individuums kann nur insoweit gesprochen werden, als das Individuum von seiner Art seine Wesensmerkmale empfängt, auf denen sein Dasein beruht. So gesehen ist das Individuum ein Produkt seiner Art. Zwischen der Art und ihren Individuen besteht ein Teilhabeverhältnis (Methexis). Das Einzelding hat am Wesen seiner Art „Anteil“, es ist gewissermaßen an der Natur der Art „beteiligt“. Gedanklich erfassbar ist die ousia der Art nur, wenn man sich ihr als solcher zuwendet, das heißt, wenn man von allen individuellen Besonderheiten absieht und nur das Gemeinsame ins Auge fasst, die Gesamtheit der jeweils artspezifischen Merkmale.