Rhetorik

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Rhetorik (rhētorikḗ (téchnē) Redekunst) ist die Kunst der Rede. Sie war schon in der griechischen Antike als Disziplin bekannt und spielte insbesondere in den meinungsbildenden Prozessen Athens und anderer Poleis eine herausragende Rolle. Die Aufgabe der Rede ist es, den Zuhörer von einer Aussage zu überzeugen oder zu einer bestimmten Handlung zu bewegen. Als Kunst der Rede stellt die Rhetorik hierzu die Mittel bereit, als Theorie der Überzeugung analysiert sie diese. Insofern enthält Rhetorik immer eine Doppelaufgabe und soll sowohl Kunst als auch Wissenschaft sein. Zum einen geht es um die Kunst, Menschen von einer Ansicht zu überzeugen oder zu einer Handlung zu bewegen, zum anderen um die Wissenschaft vom wirksamen Reden.

Schon bevor die erste ausdrückliche Theorie der Überzeugung von Aristoteles ausgearbeitet worden war, gab es die Praxis der Rhetoriklehrer und es existierten entsprechende Handbücher. Die Fähigkeit, die Redekunst kundig und erfolgreich zu handhaben, wurde für so wichtig gehalten, dass das gesamte Erziehungssystem (die sogenannte Paideia) der Antike darauf ausgerichtet war, einen künftigen Redner heranzubilden. Insofern war die Rhetorik nicht ein Fach neben anderen, sondern das Leitfach, an dessen Bedürfnissen sich alle anderen zu orientieren hatten. Am Modell der Gerichtsrede wurde das System der Rhetorik entwickelt und schulmäßig gelehrt.

Die Rhetoriker gehörten teilweise zur Bewegung der Sophisten und legitimierten die Überredung mit der Ansicht, dass eine Wahrheit nicht existiere oder wenn, nicht erkennbar sei. Im Mittelalter war die Rhetorik neben der Logik und Grammatik der Bestandteil des Triviums des in der Antike entstandenen Kanons der Sieben freien Künste.

Zur Verachtung der Rhetorik kam es schließlich vonseiten der Aufklärung, die nach unbedingter Wahrheit strebte, und mehr noch vonseiten der Romantik, der es um die Authentizität der Gefühle ging. Neben ihren sonstigen Überredungsstrategien, die geeignet sind, das Urteil des Adressaten zu manipulieren, führte dazu nicht zuletzt auch ihr Arbeiten mit erstarrten konventionellen Topoi, da auch diese vorhandene Vorurteile bestätigen, indem sie an tatsächliche oder auch nur vermeintliche Erfahrungen des Adressaten anknüpfen. Die Rhetorik galt seither nicht mehr als Ziel und Ausweis von Bildung, sondern als Medium des Truges und der Unwahrheit. Ihre Kenntnis wurde nun vor allem als nötiges Rüstzeug zur Analyse und Kritik ihrer Strategien betrachtet. Der Missbrauch der Rhetorik durch die Diktatoren des 20. Jahrhunderts für propagandistische Zwecke tat ein Übriges. Sowohl der Rückgriff auf die rhetorische Praxis und die Verwendung antisemitischer Topoi bzw. Stereotype (zum Beispiel „Ewiger Jude“, „Wanderjude“, „zersetzender jüdischer Geist“, „jüdischer Geiz“, „jüdische Weltverschwörung“ usw.) durch Adolf Hitler und andere nationalsozialistische Führungsfiguren wie den Reichspropagandaminister Joseph Goebbels (Sportpalastrede) als auch die hohe politische Bedeutung, welche die Rhetorik in den sozialistischen Diktaturen als sogenannte sozialistische Rhetorik erlangte, die mit spezieller gesellschaftspolitischer Wortwahl und Ausdeutung der politischen Verhältnisse im Sinne der Staatsideologie die Autorität des Regimes und seiner Repräsentanten zu stützen hatte, trugen entscheidend zu ihrer weiteren Diskreditierung bei.

Die Rhetorik wurde nun, vor allem in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere von Fachvertretern von Fächern wie der Politologie, Soziologie und Erziehungswissenschaft als gefährliche Waffe der Demagogie angesehen, die nur durch Vermittlung der Kenntnis ihrer psychologischen Grundlagen, des Durchschauens ihrer Wirkmechanismen und der angemessenen Bewertung ihrer Folgen unschädlich zu machen sei. Die Vermittlung dieser Kenntnisse und Kompetenzen habe im Rahmen einer Bildungskonzeption zu erfolgen, die schwerpunktmäßig auf Demokratieerziehung ausgerichtet werden müsse. Dem Durchschauen rhetorischer Strategien und Techniken sowie der kritischen Auseinandersetzung mit tradierten und unhinterfragt weiter verwendeten Topoi, Vorurteilen, Narrativen und Stereotypen komme hierbei entscheidende Bedeutung zu.

Wissenschaftliche Arbeiten zur Rhetorik beschäftigen sich, vor allem seit der Mitte des 20. Jahrhundert, überwiegend mit dem Gespräch sowie mit Fragen der Rede- und Gesprächspädagogik; ihre Forschungen kommen unter anderen aus der Sprechwissenschaft, der Sprachwissenschaft (vor allem dem Sprachgebrauch in der Werbesprache), der Psychologie, der Pädagogik und der Soziologie.

Geschichte der Rhetorik[Bearbeiten]

Rhetorik in der Antike[Bearbeiten]

Die Geschichte der Rhetorik beginnt in der griechischen Antike. In den Stadtstaaten des antiken Griechenlands, in denen alle männlichen Vollbürger an den politischen und rechtlichen Entscheidungen mitwirken konnten, spielte die Rhetorik eine große Rolle. Streitigkeiten, beispielsweise um offene Grundstücksfragen nach Tyrannenvertreibungen oder um unterschiedliche politische Positionen, die für die Allgemeinheit relevant waren, führten dazu, sich eingehender mit der Kunst der öffentlichen Rede zu beschäftigen. Wer zu seinem Recht kommen wollte, musste sein Anliegen vor Gericht persönlich vortragen können. Da die Mehrheit der Bevölkerung hierzu selbst nicht ausreichend gebildet war, suchte sie sich Redelehrer – wie Korax oder dessen Schüler Gorgias –, die ihr beim Verfertigen der Reden halfen oder ihr diese Arbeit ganz abnahmen.

Zwar hat es die praktische Beredsamkeit schon immer gegeben (bereits die Homerischen Epen reflektieren darüber), deren ausdrückliche Lehre als Kunst entwickelte sich jedoch erst im 5. Jahrhundert v. Chr. aus praktischen Bedürfnissen heraus. So entstanden die ersten Lehrbücher der Rhetorik, die alle Arbeitsschritte von der Konzeption der Rede, dem Finden und Anordnen passender Argumente und deren wirkungsvoller sprachlichen Ausgestaltung bis zum Auswendiglernen der Rede und dem mündlichen Vortrag regelten. Korax befasste sich als einer der ersten mit der überzeugenden Rede und dem Wahrscheinlichkeitsschluss. Wesentliche Elemente der Rhetorik, wie die Beweismittel, Indizien und die Schlussfolgerung, die Überredung und der richtige Zeitpunkt zum Anführen eines bestimmten Argumentes, tauchen hier, allerdings noch unsystematisch, bereits auf.

Auch in Platons Dialogen (Gorgias) werden Auseinandersetzungen über die Redekunst geführt. Die zentrale Unterscheidung ist dabei die zwischen den Philosophen und den Sophisten. Der Unterschied wird erkenntnistheoretisch wie ethisch begründet: Den Sophisten geht es nur um die Überredungskraft der Rede, selbst wenn das Gegenüber von Falschem oder Widersprüchlichem überzeugt werden soll. Diese Position ist zwar erfolgreich, aber ethisch fragwürdig; den wahren Philosophen kann es nur darum gehen, durch die Rede zur Wahrheit hinzuführen. Sokrates wird dabei die Erfindung der Mäeutik (im metaphorischen Sinne) zugeschrieben, der „Hebammenkunst“ des geschickten Fragens und Ausdeutens von Paradoxen, mit deren Hilfe ein Gegenüber schließlich „von selbst“ zur Wahrheit finden soll. Eine positiv verstandene Rhetorik muss deshalb, wie Platon im Phaidros ausführt, Seelenlenkung (Psychagogie) sein. Es ist heute jedoch umstritten, ob die platonischen Dialoge nicht nur eine Sophistik eigener Art vorführen.

Aristoteles entwickelte in seiner Rhetorik als erster eine systematische Darstellung der Redekunst. Er definiert sie als „Fähigkeit, bei jeder Sache das möglicherweise Überzeugende (pithanon) zu betrachten“ Er unterscheidet zwischen drei Formen der Überzeugung: der Glaubwürdigkeit des Redners (ethos), dem emotionalen Zustand des Hörers (pathos) und dem Argument (logos).

Das Argument hält er für das essentiellste Instrument. Der Rhetoriker überzeugt vor allem dadurch, dass er aus den vorliegenden Überzeugungen der Zuhörer die gewünschte These ableitet. Diese Form des Arguments nennt Aristoteles Enthymem. Für diese Enthymeme liefert er zahlreiche Konstruktionsanleitungen – sogenannte Topoi bsp;–, etwa:

"Ein weiterer (Topos ergibt sich) aus dem Eher und Weniger, wie zum Beispiel: ‚Wenn schon die Götter nicht alles wissen, dann wohl kaum die Menschen.‘ Denn das bedeutet: Wenn etwas dem, dem es eher zukommen könnte, nicht zukommt, dann ist offensichtlich, dass es auch nicht dem zukommt, dem es weniger zukommen könnte."

Aristoteles kritisiert an seinen Zeitgenossen das sachfremde Erregen von Emotionen, etwa wenn der Angeklagte seine Familie während der Verhandlung auftreten lässt, um auf diese Weise Mitleid zu erregen. Hierdurch werde ein sachbezogenes Urteil verhindert. Seine eigene Theorie der Emotionserregung zielt hingegen darauf ab, dass bestehende Sachverhalte hervorgehoben und so nur adäquate Emotionen gefördert, inadäquate jedoch verhindert werden. Der Charakter des Redners überzeugt schließlich dann, wenn er glaubwürdig erscheint, d.h. wenn er wohlwollend, gut und tugendhaft ist. Die optimale sprachliche Form einer Rede sei dann erreicht, wenn sie primär klar, dabei aber weder banal noch erhaben erscheint. Hierdurch werde sowohl das Verständnis als auch die Aufmerksamkeit gefördert. Für besonders geeignet hierzu hält er das Stilmittel der Metapher.

Römische Rhetorik[Bearbeiten]

Nach einer Phase der Ablehnung der griechischen Rhetoriklehrer etablierte sich der Rhetorikunterricht auch in Rom. Die erste lateinische Rhetorik ist die anonyme Rhetorica ad Herennium. Etwa gleichzeitig entstand Ciceros Jugendwerk De inventione. Weitere rhetorische Schriften Ciceros sind Orator, Brutus, die Partitiones oratoriae und vor allem der Dialog De oratore, die Krönung von Ciceros Beschäftigung mit der Rhetorik. Auch nach dem Ende der Republik blieb der Rhetorikunterricht zentral, verlor allerdings seinen Sitz im Leben in der römischen Kultur. Zeugnis hierfür ist der Dialogus de oratoribus des Tacitus. In der Forschung spricht man bisweilen auch von einem Prozess der Literarisierung der Rhetorik, die nun zur Grundlage der Literaturproduktion wird (Horaz). Mit Quintilian wird am Ende des 1. Jh. n. Chr. erstmals ein Professor für Rhetorik bestellt. Seine Institutio oratoria in zwölf Büchern ist die Summe des antiken Nachdenkens über Rhetorik.

Im Mittelalter werden Ciceros De inventione und Quintilians Institutio oratoria zur Grundlage des Rhetorikunterrichts im Rahmen des Triviums aus Grammatik, Dialektik, Rhetorik, das an den Universitäten Europas das Grundstudium und die Grundlage jeder gelehrten Tätigkeit bildete. Zu sehr seltenen Erscheinungen gehören die fünf erhaltenen lateinischen Schulreden des Laurentius von Durham aus der Mitte des zwölften Jahrhunderts, die sich als Gerichtsreden vor einem pfalzbischöflichen Gericht ausgeben.

Rhetorik in der Neuzeit[Bearbeiten]

Für die gesamte Frühe Neuzeit (16.–18. Jahrhundert) bildet die Rhetorik die unbestrittene Grundlage der Literatur und ihrer Theorie, der Poetik. Dichter wie Martin Opitz oder Georg Philipp Harsdörffer verfassten deutschsprachige Poetiken, deren Struktur und Inhalt sich am Vorbild der Rhetoriken orientierte. Das Gedicht galt als Rede im Sinne der Lobrede, und vom Poeten wurde Gelehrsamkeit und rhetorische Schulung verlangt. Vorbild für diesen Prozess der Vernakularisierung war die lateinische Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit.

Die Aufklärung warf hingegen der Rhetorik vor, von rationaler Erkenntnis abzulenken. Noch stärker abgewertet wurde sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der Genieästhetik unter deutschen Intellektuellen. Reden sollten nunmehr überzeugend wirken, weil sie aus dem Inneren der Seele oder des Herzens flossen, und nicht mehr, weil eine bestimmte Technik möglichst geschickt angewandt wurde. Insofern geriet die Rhetorik im 18. Jahrhundert unter den moralisch eingefärbten Verdacht, eine strategisch-manipulative „Verstellungskunst“ zu sein. Diese Abwertung führte dazu, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts die Rhetorik als Lehrfach zunehmend verschwand. Goethe, der einer der größten Gegner der rhetorischen Kunstlehre war und diese als Schule des Verstellens bezeichnete, hatte dabei selbst eine rhetorische Ausbildung genossen. Die Rhetorik fördere das Aufwieglertum und sei eine Technik, mit der es dem Redner möglich sei, „gewisse äußere Vorteile im bürgerlichen Leben zu erreichen“. Immanuel Kant wertet in seiner Kritik der Urteilskraft die Rednerkunst als eine Methode ab, sich der Schwächen des Gegners zu bedienen, weshalb sie „gar keiner Achtung würdig“<ref name="kant-kdu" /> sei.

In einer Zeit, als man unter Rhetorik nur noch die Technik der Rede, des Gesprächs und der Textanalyse verstand, erhielt sie neue Bedeutung von gesellschaftspolitischer Seite, vor allem durch Karl Marx und andere Sozialrevolutionäre. Im Kommunismus entwickelte sich eine sozialistische Rhetorik mit spezieller Wortwahl. Sie deutete die politischen Verhältnisse im Sinne des Marxismus und stützte auf kämpferische Weise die Argumentation seiner Vertreter und ihre Überzeugungskraft. Dadurch geriet aber in bürgerlichen Kreisen die Redekunst als Ganzes in ein schiefes Licht.

Walter Jens (Univ. Tübingen) führt das schlechte Ansehen der Rhetorik in Deutschland u. a. auf das feudalistische System vieler Territorialherren zurück. Die Rhetorik sei vom Wesen her Sprachmacht der Vernunft, die über Moral und Humanität reflektiere und keine bloße Technik. Die abendländische Beredsamkeit sei aber durch das Untertanendenken zur Dürftigkeit deutscher Zeremonialrhetorik abgesunken. Bismarck selbst, obwohl ein großer Redner, habe die Rhetorik verachtet und sei stolz darauf gewesen, kein Rhetor gewesen zu sein. In der Missachtung des Wortes gegenüber der Tat zeigten sich Reste einer Untertanengesinnung, die nur Befehlen und Gehorchen kenne. Dieses Fehlen einer rhetorischen Tradition sei in Deutschland, anders als in England und Frankreich, ein Grund für die Anfälligkeit gegenüber massenpsychologischer Propaganda gewesen. Auch für Nietzsche beginnt die Bedeutung der Rede erst mit der politischen Form der Demokratie.

In Frankreich dagegen, wo seit dem Mittelalter der Einfluss der antiken Rhetoriker am meisten spürbar war (im geistlichen Bereich unter anderem Jacques Bénigne Bossuet und Louis Bourdaloue), wurde durch die Französische Revolution ein weiterer Aufschwung in der öffentlichen Beredsamkeit ausgelöst. In England förderte das Parlament die Ausbildung von Rhetorikern, wie William Pitt, Edmund Burke, William Ewart Gladstone, Charles James Fox und Thomas Babington Macaulay.