Stamm (Gesellschaftswissenschaften)

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Stamm, im deutschen Sprach- und Kulturraum auch speziell Volksstamm, bezeichnet eine relativ wenig komplexe gesellschaftliche Organisationsform, deren Mitglieder durch die oft mythische Vorstellung einer gemeinsamen Abstammung sowie durch Sprache oder Dialekt, Religion, Brauchtum und Gesetz und auch durch politische Interessen zusammengehalten werden. Von dieser Vorstellung eines Stammes unterscheiden die Politikwissenschaft und die Ethnologie die übergeordnete Integrationsstufe des Staates.

Die Bezeichnung Stamm wird, vor allem von Gegnern evolutionstheoretischer Ansätze, einer tiefgreifenden Ideologiekritik unterzogen, weitestgehend abgelehnt und gerne durch den Begriff „Ethnie“ ersetzt. Unter Vertretern evolutionärer Theorien, insbesondere des Neoevolutionismus, wird er jedoch weiter an zentraler Stelle verwendet und ist auch sonst in der aktuellen wissenschaftlichen Literatur häufig vorzufinden, insbesondere in der Archäologie Auch in der Ethnologie ist die Definition einer Volksgruppe als „Stamm“ v. a. dann weiterhin aktuell (vergleiche beispielsweise die Scheduled Tribes in Indien), wenn sie sich an der Selbstidentifikation sowie der kulturellen, religiösen und ethnischen Identität der jeweiligen sozialen Gruppe orientiert.

„Stamm“ ist allgemein von der biologischen „Abstammungsgruppe“ (Lineage) zu unterscheiden und entspricht beispielsweise auf Afrika bezogen der „Ethnie“, die eine zwar gesellschaftlich konstruierte, aber als real aufgefasste Einheit bildet.

Nach der ethnologischen Systematisierung beziehen sich die Mitglieder eines Clans auf einen mythischen Vorfahren (oder auf ein Totem), während auf der darunter folgenden Ebene der Abstammungsgruppen ein mehr oder weniger klar feststellbarer biologischer oder geschichtlicher Stammvater oder eine Stammmutter genannt wird. Auf der darüber liegenden Ebene des Stammes ist das einigende Prinzip eher abstrakter Art (Sprache, Religion, Brauchtum, Gesetz – so auch bei den deutschen Stämmen), obwohl auch hier gelegentlich mythische Ahnen zitiert werden (etwa bei den Stämmen Israels).

Stämme schlossen sich zu Stammesverbänden oder Großstämmen zusammen (vergleiche Stammeskonföderation, Stammesgesellschaft), die dann teils als eigenes „Volk“ bezeichnet werden (etwa das „Volk der Franken“), während von Völkern ansonsten erst bei der Vereinigung von verschiedenen Stämmen zu einer Nation gesprochen wird („Volk der Deutschen“).

Begriffsgeschichte[Bearbeiten]

Der Begriff „Stamm“ als ein organisierter Verband innerhalb eines Volkes taucht an prominenter Stelle bei den Zwölf Stämmen Israels im 2. Buch Mose auf. Die übergeordnete Einheit des „Volkes“ wird hier eingeschränkt als Geschichtsmythos verwendet im Sinne eines Stammesverbands mit einer für alle Mitglieder gemeinsamen Abstammung. Indem die israelitischen Stämme eine gemeinsame Sprache und Kultur innerhalb eines geschlossenen Siedlungsgebietes herausbildeten, entwickelten sie ein eigenes, sich nach außen abgrenzendes Zusammengehörigkeitsgefühl. Hier machte sich die Vorstellung eines „Stammvaters“ fest. Der nachfolgende geschichtliche Prozess, mit dem sich eine Gruppe von Menschen von anderen abgrenzt und zu einem Volk zusammenfindet, wird als Ethnogenese bezeichnet.

Sprachlich und bildhaft ist die „Abstammung“ mit dem Baumstamm verbunden, dem von seinem Ursprung her (aus dem Samen) Äste gewachsen sind. Hierbei kommt es sprichwörtlich zur Aufzweigung anfänglich einer einzigen Linie (vergleiche lineare Verwandtschaft). Diese doppelte Bedeutung beinhaltet auch das lateinische stirps, das sowohl botanisch die „Wurzel“ oder den „Stamm“ als auch die „Nachkommen“ einer Familie oder Herkunftslinie bezeichnet, beispielsweise die des Aeneas.

Das Wort „Stamm“ bildete sich in der entsprechenden Bedeutung über das Mittelhochdeutsche stam aus dem Althochdeutschen liutstam. Das englische Wort tribe und das französische tribu beginnen mit der Silbe tri („drei“) vom lateinischen Wort tribus, das eine Einteilung der Bevölkerung des antiken Roms in drei Abteilungen meinte. Im Zuge der Christianisierung Britanniens – ebenfalls von der römischen Besatzungsmacht importiert – bezog sich das englische tribe auch auf die Zwölf Stämme Israels. Die Vorstellung dieser Stämme ging unmittelbar in die Reisebeschreibungen des 17. und 18. Jahrhunderts ein; zusätzlich begannen die damaligen Ethnologen, den Begriff Stamm im Sinne einer Einteilung oder Gliederung der Völker in den besuchten fremden Ländern anzuwenden. Die hierbei miteinbezogene evolutionistische Betrachtungsweise stand teilweise noch stark unter dem Einfluss der biblischen Erzählungen, jedoch boten auch Autoren des klassischen Griechenlandes einen Fixpunkt. Sie beschrieben die Struktur ihrer eigenen Gesellschaft unter anderem als in Trittyen („Drittel“) gegliedert und grenzten sie so gegenüber den Gemeinwesen der mutmaßlich desorganisierteren Barbaren ab.

Die nachrömischen germanischen Bevölkerungsgruppen in Mitteleuropa wie Alamannen und Langobarden werden wegen ihres geringen staatlichen Organisationsgrades als Stämme bezeichnet. Im Mittelalter gab es in Deutschland auf dem Weg zur Nationenbildung unter anderem Stammesabgrenzungen zwischen den Friesen, Sachsen, Thüringern, Franken, Schwaben und Baiern.

Im Lauf des 19. Jahrhunderts erhielt „Stamm“ für die gegenwärtigen Gesellschaften die allgemeine Bedeutung einer einfach und ursprünglich organisierten Untergruppe einer vorzugsweise außereuropäischen Gesellschaft (vergleiche Stammesgesellschaft). Dementsprechend definiert ein Wörterbucheintrag von 1965 den Stamm als „eine besonders bei den Naturvölkern in den Vordergrund tretende ethnische Einheit, die Menschen gleicher Sprache und gleicher Kultur zu einem autonomen Territorialverband zusammenschließt“.