Reichstag (Deutsches Kaiserreich)

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Der Reichstag war von 1871 bis 1918 das Parlament des Deutschen Kaiserreichs. Schon im Norddeutschen Bund hatte das Parlament denselben Namen und dieselbe Position im politischen System. Der Reichstag verkörperte neben dem Kaiser die Einheit des Reiches, war also ein unitarisches Organ. Er repräsentierte das nationale und demokratische Element neben dem Föderalismus der Bundesstaaten und der monarchisch-bürokratischen Exekutive (dem Kanzler) im Machtgefüge des Reiches.

Gemeinsam mit dem Bundesrat übte er die Reichsgesetzgebung aus und besaß die Mitentscheidungsgewalt über den Haushalt des Reiches. Es hatte auch gewisse Kontrollrechte gegenüber der Exekutive und konnte durch Debatten Öffentlichkeit herstellen.

Der Reichstag wurde mit einem der fortschrittlichsten Wahlgesetze seiner Zeit gewählt; zunächst für je drei Jahre, dann für je fünf Jahre. Wählen durften grundsätzlich alle Männer ab 25 Jahren, mit Einschränkungen zum Beispiel für Entmündigte. Der Reichstag tagte auch während des Ersten Weltkriegs. In der Novemberrevolution ab dem 09.11.1918 verhinderte jedoch der Rat der Volksbeauftragten eine weitere Reichstagssitzung. Somit fand die letzte Sitzung am 26.10.1918 statt. Der vorläufige Nachfolger des kaiserzeitlichen Reichstags wurde die Weimarer Nationalversammlung ab 06.02.1919.

Wahlen[Bearbeiten]

Die Reichsverfassung vom 16. April 1871 änderte nichts an der Rechtsgestalt des Parlamentes, wie sie für den Reichstag des Norddeutschen Bundes durch seine Bundesverfassung vom 17. April 1867 vorgezeichnet war. Das Bundeswahlgesetz bzw. Reichswahlgesetz von 1869 orientierte sich am Reichswahlgesetz von 1849.

Die Abgeordneten wurden mit einem allgemeinen, gleichen und geheimen Männerwahlrecht gewählt (siehe Reichstagswahlen in Deutschland). Wahlberechtigt waren alle Männer ab 25 Jahren. Dieses Wahlrecht war im internationalen Vergleich, aber auch mit Blick auf die Länderparlamente, sehr weitgehend. In den meisten anderen Ländern wurde es durch eine Art des Zensuswahlrechts eingeschränkt.

Ebenfalls nicht wahlberechtigt waren im aktiven Militärdienst stehende Personen (diese besaßen allerdings das passive Wahlrecht), da man eine Politisierung des Militärs vermeiden wollte, sowie Personen, die auf öffentliche Armenunterstützung angewiesen waren, Personen, über deren Vermögen ein Verfahren wegen Konkurs oder Zahlungsunfähigkeit eröffnet worden war und Personen, die durch ein Gerichtsurteil entmündigt oder ihrer staatsbürgerlichen Rechte verlustig erklärt worden waren. Bei der Reichstagswahl 1912 waren 22,2% der Bevölkerung (14,442 Millionen Männer) wahlberechtigt (zum Vergleich: in Großbritannien 16%, in den USA 28%). Dieser Prozentsatz lag deutlich höher als der Prozentsatz der Wahlberechtigten bei Landtagswahlen in den Einzelstaaten, beispielsweise in Bayern oder Sachsen, wo das Wahlrecht noch an zusätzliche Bedingungen gebunden war.

Bedeutung der Stichwahlen[Bearbeiten]

Gewählt wurde in Einmannwahlkreisen mit absolutem Mehrheitswahlrecht. Damit gab es nur direkt gewählte Abgeordnete. Es war derjenige gewählt, der im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Geschah dies nicht, kam es zwischen den beiden Kandidaten mit der höchsten Stimmenzahl zu einer Stichwahl. Die Stichwahlen gewannen während der Reichstagswahlen im Kaiserreich immer größere Bedeutung. Während bei der Reichstagswahl 1874 nur in 46 der 397 Wahlkreise (11,6 %) Stichwahlen abgehalten werden mussten, waren es bei der Reichstagswahl 1890 schon 147 Wahlkreise (37 %) und bei der Reichstagswahl 1912 190 Wahlkreise (47,9 %).

Dies war Ausdruck der Tatsache, dass die Bedeutung von „Hochburgen“ der Parteien abnahm, während sich insbesondere die Sozialdemokratie als reichsweite Massenbewegung etablierte. Die Sozialdemokraten waren an zunehmend mehr Stichwahlen beteiligt (im Jahr 1912 an 120 der 190 Stichwahlen), wovon sie die Mehrheit verloren (im Jahr 1912: 45 gewonnene Stichwahlen von 120), weil sozialdemokratische Kandidaten in der Stichwahl meist einer großen Koalition aller bürgerlichen Parteien gegenüberstanden. Besonders erfolgreich in den Stichwahlen waren die liberalen Parteien der Mitte, die die große Mehrheit ihrer Reichstagsmandate in der Regel erst in der Stichwahl gewinnen konnten. Beispielsweise nahmen die Nationalliberalen bei der Wahl 1912 an 68 Stichwahlen teil, von denen sie 41 gewannen. Im ersten Wahlgang waren nur 3 Direktkandidaten erfolgreich gewesen. Die Deutsche Fortschrittspartei nahm 1912 an 55 Stichwahlen teil, von denen sie 42 gewann. Im ersten Wahlgang hatte sie kein einziges Direktmandat erzielt.

Quellen[Bearbeiten]

  • Andreas Biefang: Die andere Seite der Macht. Reichstag und Öffentlichkeit im „System Bismarck“ 1871–1890 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 156). Düsseldorf 2009.