Deutsches Kaiserreich

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Deutsches Kaiserreich ist die nachträgliche Bezeichnung des Deutschen Reiches für die Epoche von seiner Gründung 1871 bis zum Ende der Monarchie in der Novemberrevolution von 1918. Der erste deutsche Nationalstaat war eine föderale, konstitutionelle Monarchie und nach seiner Verfassung ein „ewiger Bund“ der deutschen Fürsten. Als deren Oberhaupt nahm der König von Preußen den Titel „Deutscher Kaiser“ an. Otto von Bismarck, Ministerpräsident von Preußen und treibende Kraft hinter der Reichsgründung, war wie die meisten seiner Nachfolger zugleich Reichskanzler. Berlin, die Hauptstadt Preußens, war auch die des Kaiserreichs.

Noch während des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 traten die süddeutschen Länder Bayern, Württemberg und Baden sowie der südlich des Mains gelegene Teil von Hessen-Darmstadt dem Norddeutschen Bund bei. Mit dem Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung entstand am 1. Januar 1871 das Kaiserreich. Die Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. zum Kaiser erfolgte am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles. Nach dem Krieg gegen Frankreich, der zu diesem Zeitpunkt noch andauerte, wurde Elsaß-Lothringen dem Deutschen Reich angegliedert und als Reichsland direkt dem Kaiser unterstellt.

Zur Zeit des Kaiserreichs war Deutschland wirtschafts- und sozialgeschichtlich geprägt durch die Hochindustrialisierung. Ökonomisch und sozial wandelte es sich insbesondere seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert vom Agrar- zum Industrieland. Mit dem Ausbau von Handel und Bankwesen wuchs auch die Bedeutung des Dienstleistungssektors. Das auch durch die französischen Kriegsreparationen nach 1871 verstärkte Wirtschaftswachstum wurde durch den sogenannten Gründerkrach von 1873 und die ihm folgende langjährige Konjunkturkrise zeitweilig gebremst. Trotz erheblicher politischer Folgen änderte dies nichts an der strukturellen Entwicklung hin zum Industriestaat.

Kennzeichnend für den gesellschaftlichen Wandel war eine stark international orientierte Reformbewegung, in deren Verlauf die soziale Frage mit Armutsskandalisierung und -bekämpfung vorangetrieben wurde, Frauen forderten verbesserte Bildungschancen und das Wahlrecht. Strukturelle Grundlage dieser Veränderungen waren neben der Massenpolitisierung ein rapides Bevölkerungswachstum, Binnenwanderung und Urbanisierung. Die Gesellschaftsstruktur wurde durch die Zunahme der städtischen Arbeiterbevölkerung und – vor allem in den Jahren ab etwa 1890 – auch des neuen Mittelstandes aus Technikern, Angestellten sowie kleinen und mittleren Beamten wesentlich verändert. Dagegen ging die wirtschaftliche Bedeutung des Handwerks und der Landwirtschaft, bezogen auf deren Beiträge zum Volkseinkommen, eher zurück.

Die innen- und außenpolitische Entwicklung des Reichs wurde von 1871 bis 1890 von seinem ersten und am längsten amtierenden Kanzler, Otto von Bismarck, bestimmt. Seine Regierungszeit lässt sich in eine relativ liberale Phase, geprägt von innenpolitischen Reformen und vom Kulturkampf, und eine eher konservativ geprägte Zeit nach 1878/79 einteilen. Als Zäsur gelten der Übergang zum Staatsinterventionismus (Schutzzoll, Sozialversicherung) sowie das Sozialistengesetz.

Bismarck versuchte außenpolitisch, das Reich durch ein komplexes Bündnissystem abzusichern (z. B. Zweibund mit Österreich-Ungarn 1879). Ab 1884 begann der – später intensivierte – Einstieg in den überseeischen Imperialismus. Es folgten internationale Interessenkonflikte mit anderen Kolonialmächten, insbesondere der Weltmacht Großbritannien.

Die Phase nach der Ära Bismarck wird oft als Wilhelminisches Zeitalter bezeichnet, weil Kaiser Wilhelm II. (ab 1888) nach der Entlassung Bismarcks persönlich in erheblichem Umfang Einfluss auf die Tagespolitik ausübte. Daneben spielten auch andere, teilweise konkurrierende Akteure eine wichtige Rolle. Sie beeinflussten die Entscheidungen des Kaisers und ließen sie oft widersprüchlich und unberechenbar erscheinen.

Durch den Aufstieg von Massenverbänden und -parteien sowie die wachsende Bedeutung der Presse gewann zudem die öffentliche Meinung an Gewicht. Nicht zuletzt darum versuchte die Regierung mit einer imperialistischen Weltpolitik, einer antisozialdemokratischen Sammlungspolitik und einer populären Flottenrüstung (siehe Flottengesetze) ihren Rückhalt in der Bevölkerung zu erhöhen. Außenpolitisch führte Wilhelms Weltmachtstreben jedoch in die Isolation; durch diese Politik trug das Reich dazu bei, die Gefahr des Ausbruchs eines großen Krieges zu erhöhen. Als dieser Erste Weltkrieg schließlich 1914 ausgelöst wurde, war das Reich in einen Mehrfrontenkrieg verwickelt. Auch in der Innenpolitik gewann das Militär an Einfluss. Mit der zunehmenden Anzahl von Kriegstoten an den Fronten und der sozialen Not in der Heimat (gefördert durch alliierte Seeblockaden) begann die Monarchie an Rückhalt zu verlieren.

Erst gegen Kriegsende kam es zu den Oktoberreformen 1918, die unter anderem bestimmten, dass der Reichskanzler das Vertrauen des Reichstages haben musste. Schon bald darauf wurde in der Novemberrevolution die Republik ausgerufen, und die verfassunggebende Nationalversammlung in Weimar konstituierte das Reich 1919 als parlamentarische Demokratie. Das heutige Deutschland ist völkerrechtlich mit dem Deutschen Reich des Jahres 1871 identisch, auch wenn sich Regierungsform und Verwaltungsgebiet seither mehrmals geändert haben.

Vorgeschichte[Bearbeiten]

Die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts war bis zur Nationalstaatsgründung geprägt von vielfachen politischen und territorialen Veränderungen, die nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ab 1806 in eine neue Phase eingetreten waren. Das Alte Reich, ein von den römisch-deutschen Kaisern geführtes vor- und übernationales Gebilde – seit Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend geprägt von den Interessengegensätzen seiner beiden Großmächte Österreich und dem aufstrebenden Preußen, zerbrach durch die Napoleonischen Kriege und die von Frankreich initiierte Gründung des Rheinbundes.

Die Ideen der Französischen Revolution zwischen 1789 und 1799 und die gegen die nachfolgende Hegemonialpolitik Napoleon Bonapartes gerichteten Befreiungskriege führten in nahezu ganz Europa, einschließlich des deutschen Sprachraums, zu Nationalstaatsbewegungen mit der Vorstellung der Nation als Grundlage der Staatenbildung. Als großdeutsche Lösung wurde dabei ein einheitliches Reich unter Einbeziehung der deutschen Siedlungsgebiete des Kaisertums Österreich, Preußens und Dänemarks bezeichnet, als kleindeutsche Lösung ein Deutsches Reich entsprechend ohne Österreich unter preußischer Führung.

Nach dem Sieg der gegen Frankreich stehenden Mächte Europas (ihnen voran Großbritannien, Preußen, Russland und Österreich) über die Armeen Napoleons hatten die deutschen Fürsten jedoch kein Interesse an einer zentralen Macht, die ihre eigene Herrschaft begrenzen würde. Auf dem Wiener Kongress wurde 1815 daher lediglich der Deutsche Bund gegründet, ein lockerer Zusammenschluss jener Gebiete, die vor 1806 zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehört hatten. Die dem Wiener Kongress folgende, in der späteren Geschichtsschreibung als Vormärz bezeichnete Ära war geprägt von der Restaurationspolitik, die überstaatlich vom österreichischen Staatskanzler Clemens Wenzel Fürst von Metternich dominiert war. Im Rahmen der sogenannten Heiligen Allianz, einem zunächst zwischen Österreich, Preußen und Russland geschlossenen Bündnis, sollte die Restauration innenpolitisch und zwischenstaatlich die Machtverhältnisse in Europa wiederherstellen, die im Ancien Régime bis zur Französischen Revolution geherrscht hatten.

Nationalstaatliche und bürgerlich-demokratische Bewegungen standen der Restaurationspolitik entgegen. Im Revolutionsjahr 1848 in weiten Teilen Mitteleuropas wurde auch die Märzrevolution in den deutschen Staaten in die revolutionäre Bewegung mit einbezogen. Abgeordnete des daraufhin neu entstandenen ersten gesamtdeutschen, demokratisch gewählten Parlaments, der Frankfurter Nationalversammlung, boten nach der Verabschiedung der Paulskirchenverfassung dem preußischen König Friedrich Wilhelm IV. im Rahmen der kleindeutschen Lösung die deutsche Kaiserkrone an. Weil dieser aber mit Berufung auf sein „Gottesgnadentum“ ablehnte, scheiterte der Versuch, den Großteil der deutschen Staaten auf konstitutioneller Basis zu vereinigen.

Der Deutsche Bund bestand nach der letztlich gewaltsamen Niederschlagung der revolutionären Bewegung von 1848/49 noch bis 1866 fort. Nach einem Jahrzehnt der politischen Reaktion (Reaktionsära), in dem demokratische und liberale Bestrebungen erneut unterdrückt wurden, bildeten sich ab Beginn der 1860er Jahre in den deutschen Staaten die ersten politischen Parteien im heutigen Sinn. Das Verhältnis von Österreich und Preußen war in den 1850er Jahren von Zusammenarbeit geprägt, danach wieder von Rivalität. Unterschiedliche Vorstellungen zeigten sich etwa beim Frankfurter Fürstentag 1863: Österreich und die Mittelstaaten wie Bayern wollten den Deutschen Bund als Staatenbund ausbauen, während Preußen eine bundesstaatliche Lösung bevorzugte. Im Deutsch-Dänischen Krieg 1864 arbeiteten die beiden Großmächte wieder zusammen, zerstritten sich dann aber über die Beute Schleswig-Holstein.

Durch preußische Provokation (den Einmarsch ins österreichisch verwaltete Holstein) wurde 1866 der Deutsche Krieg Preußens gegen Österreich ausgelöst, in dem die Armeen Preußens und einiger norddeutscher Staaten gemeinsam mit Italien gegen die Truppen Österreichs kämpften, das mit den süddeutschen Staaten, unter anderen Baden, Bayern, Hessen und Württemberg, verbündet war. Nach der Niederlage musste Österreich die Auflösung des Deutschen Bundes anerkennen und hinnehmen, dass Preußen mit den Staaten nördlich der Mainlinie den Norddeutschen Bund als zunächst militärisches Bündnis gründete. Dieser erhielt 1867 eine bundesstaatliche Verfassung. Die zuvor mit Österreich alliierten süddeutschen Staaten schlossen Schutz- und Trutzbündnisse mit Preußen ab.

Ausgelöst durch einen diplomatischen Streit um die spanische Erbfolge begann 1870 der Deutsch-Französische Krieg. Die Kriegserklärung kam von französischer Seite, nachdem der preußische Ministerpräsident Bismarck Frankreich politisch bloßgestellt hatte. Die süddeutschen Staaten nahmen am Krieg teil und traten zum 1. Januar 1871 dem Norddeutschen Bund bei. Die drei Kriege zwischen 1864 und 1871 werden auch als deutsche Einigungskriege bezeichnet.

Reichsgründung[Bearbeiten]

Der deutsche Sieg bei Sedan und die Gefangennahme des französischen Kaisers Napoleon III. (beides am 02.09.1870) machten den Weg für die Reichsgründung frei. Bismarck begann mit den süddeutschen Staaten zu verhandeln. Dies bedeutete den Beitritt Bayerns, Württembergs und Badens zum Norddeutschen Bund durch die im November 1870 vereinbarte Gründung eines neuen „Deutschen Bundes“. Andere Pläne wie der eines Doppelbundes, wie ihn etwa Bayern vorgeschlagen hatte, waren nunmehr chancenlos. Die bismarcksche Lösung garantierte zum einen eine Dominanz Preußens auch im neuen, sogenannten zweiten Deutschen Reich. Zum anderen bedeutete der monarchische Föderalismus eine Barriere gegen Tendenzen zur Parlamentarisierung.

In der deutschen Öffentlichkeit wurden Forderungen nach einer Annexion des Elsass und Teilen Lothringens erhoben, und Bismarck machte sich diese Forderungen zu eigen. Dies verlängerte den Krieg, war ein Grund für die Verstärkung der „deutsch-französischen Erbfeindschaft“ und gab der nationalen Begeisterung in Deutschland weiteren Auftrieb. Letztere erleichterte Bismarck die Verhandlungen mit den süddeutschen Staaten, die in den Novemberverträgen mündeten.

Gleichwohl musste er Zugeständnisse machen, die sogenannten Reservatrechte. So behielt Bayern in Friedenszeiten eine eigene Armee (Bayerische Armee). Überdies hielt es genauso wie Württemberg an einem eigenen Postwesen fest. Die süddeutschen Staaten insgesamt behielten ihre staatlichen Eisenbahnen (Königlich Bayerische Staatseisenbahnen, Königlich Württembergische Staats-Eisenbahnen, Großherzoglich Badische Staatseisenbahnen, Großherzoglich Hessische Staatseisenbahnen). In der Außenpolitik pochten sie erfolgreich auf eigene diplomatische Beziehungen.

Der preußische König, Inhaber des Bundespräsidiums, erhielt den zusätzlichen Titel „Deutscher Kaiser“. Diese Benennung war staatsrechtlich von untergeordneter, symbolisch jedoch von erheblicher Bedeutung – die Erinnerung an das Alte Reich erleichterte die Identifikation mit dem neuen Staat. Um die monarchische Legitimität des Nationalstaats zu betonen, war es Bismarck wichtig, dass König Ludwig II. als Monarch des größten Beitrittslandes König Wilhelm I. die Kaiserkrone antragen sollte. Nach Verabredungen über Aufbesserungen seiner Privatkasse erklärte sich der widerstrebende, aber politisch isolierte bayerische König zu diesem Schritt bereit und schlug in dem von Bismarck vorformulierten Kaiserbrief vom 30.11.1870 König Wilhelm zum deutschen Kaiser vor. Die geheimen jährlichen Zuwendungen, die Bismarck aus dem Welfenfonds für Ludwig abzweigte, summierten sich auf 4 bis 5 Millionen Mark. Bezeichnend für den Charakter des neuen Reiches war, dass die Vertreter des Norddeutschen Reichstages warten mussten, bis die Bundesfürsten ihre Zustimmung zur Kaiserwürde erklärt hatten. Erst danach durften die Abgeordneten den König um eine Annahme der Kaiserkrone bitten. Dies stand im deutlichen Kontrast zur Kaiserdeputation von 1849.

König Wilhelm selbst, der – nicht zu Unrecht – fürchtete, dass der neue Titel die preußische Königswürde überdecken werde, blieb lange ablehnend. Wenn überhaupt, verlangte er den Titel eines „Kaisers von Deutschland“. Bismarck warnte, dass die süddeutschen Monarchen dies kaum akzeptieren würden. Außerdem lautete der verfassungsmäßige Titel seit dem 1. Januar bereits „Deutscher Kaiser“. Wilhelm ließ es dann bei der Kaiserproklamation am 18. Januar geschehen, dass der badische Großherzog ein Hoch auf „Kaiser Wilhelm“ ausrief.

Am 03.03.1871 kam es dann zu den ersten Reichstagswahlen. Die erste konstituierende Reichstagssitzung fand am 21. März im Preußischen Abgeordnetenhaus in Berlin statt, das zur Reichshauptstadt erklärt wurde. Danach wurde die Verfassung vom 01.01.1871 überarbeitet und am 16. April verabschiedet; sie ist normalerweise gemeint, wenn von der „Bismarckschen Reichsverfassung“ die Rede ist.

Der Friede von Frankfurt beendete offiziell den Deutsch-Französischen Krieg. Die Unterzeichnung fand am 10. Mai statt. Das Reichsland Elsaß-Lothringen wurde dem Deutschen Reich angegliedert und unterstand unmittelbar dem deutschen Kaiser. Der Sieg Preußens und der verbündeten deutschen Staaten und die Reichsgründung wurden am 16. Juni 1871 mit einer pompösen Siegesparade in Berlin und weiteren deutschen Städten gefeiert. Das Reichsmünzgesetz vereinheitlichte die deutschen Währungen, die Mark wurde 1876 als einheitliche Währung im Reich eingeführt und ersetzte die bisherigen Zahlungsmittel der Einzelstaaten. Die neue Mark-Währung basierte auf dem Goldstandard.